Unser Partner Jihad von Duhaim Alhumam ist selbst halbseitig gelähmt und kennt daher die Hürden in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen sehr gut. Für Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind diese aber noch deutlich höher, denn sie werden von der Gesellschaft praktisch ausgeschlossen – insbesondere, wenn sie von Geburt an eine Behinderung haben – wie Jihad berichtet:
„Die alltäglichen Einschränkungen für Frauen sind unglaublich stark. Es ist schwer sie in die Mitte der Gesellschaft zu holen, weil sie von ihren Familien oft versteckt werden. Der Scham ist besonders bei den Älteren sehr verhaftet, weil sie eine Behinderung als Makel wahrnehmen, insbesondere bei den Mädchen und Frauen.
Im vergangenen Jahr kam mein Nachbar zu uns ins Zentrum, um seine blinde Tochter für einen Kurs anzumelden. Die Frau ist 40 Jahre alt und wohnt direkt neben mir, aber bis dahin habe ich nicht mal gewusst, dass es sie gibt, weil sie nie draußen war und nie von ihr gesprochen wurde. Sie hat, bis sie zu uns kam, überhaupt nicht am öffentlichen Leben teilgenommen. Und das ist hier leider eher die Regel, als die Ausnahme.
Ich kann da leider nicht mal meine eigene Familie von ausnehmen. Meine gleichaltrige Cousine zum Beispiel ist von Geburt an vollständig gelähmt. Ich bin jetzt 28 Jahre alt und ich habe erst vor sechs Jahren überhaupt von ihr erfahren. Die Scham in den Familien ist unfassbar groß, es ist sehr schlimm.
Wenn Mädchen mit Behinderungen Glück haben, dann dürfen sie eine Schule besuchen. Aber das wird schon als sehr großer Gefallen angesehen und nicht als normal und notwendig.
Deshalb ist die gesellschaftliche Inklusion von Mädchen und Frauen mit Behinderungen sehr schwierig. Wie sollen wir jemanden integrieren, von deren Existenz wir nichts wissen? Wie sollen wir auf die Familien einwirken, wenn wir gar nicht wissen, in welchen Familien es Frauen und Mädchen mit Behinderungen gibt?
Meist werden die Menschen dann sichtbar, wenn es um humanitäre Hilfe und Sonderverteilungen für Personen mit Behinderungen gibt. Das sind die Momente, in denen die Familien vorbeikommen – mit entsprechenden Unterlagen, nicht mit den entsprechenden Familienmitgliedern. Und trotzdem bleiben so viele unsichtbar, weil sie versteckt werden.
Bei Mädchen und Frauen wird ein anderer Maßstab angelegt, als bei Jungen und Männern.
Insbesondere Mädchen, die mit einer Behinderung zur Welt kommen, werden versteckt. Das trifft auch Jungen, aber primär die Mädchen. Und ganz deutlich wird es auch bei kriegsbedingten Behinderungen. Bei männlichen Kriegsversehrten, wie beispielsweise bei mir, wird es oft als Dienst an der Revolution angesehen. Für Mädchen und Frauen gilt das nicht. Ihre Familien würden sie gerne verstecken, aber da sie ja vorher bereits ein Leben inmitten der Gesellschaft geführt haben, geht das zum Glück kaum. Sie gingen zur Schule, einkaufen, zur Arbeit. Sie haben eigene Freundeskreise und ein soziales Netzwerk und lassen sich nicht verstecken. Das ist für viele aber auch ein großer Kraftakt, weil sie gegen den Willen ihrer Eltern und Familien agieren müssen, denen die Sichtbarkeit oft nicht lieb ist.
Wir hier bei Duhaim Alhumam sind uns der Situation der Frauen mit Behinderung sehr bewusst, aber die gezielte Arbeit ist natürlich sehr schwierig, weil wir die Personen oft nicht kennen. Deshalb ist es aber auch sehr wichtig und uns auch ein besonderes Anliegen, in unseren Dialogprojekten auch das anzusprechen und zu sensibilisieren. Wir können viele der Mädchen und Frauen nicht direkt erreichen, aber ihre Familien. Unser Zentrum fungiert ja auch als Begegnungsort von Menschen mit und ohne Behinderungen. Und wir haben viele Frauen bei uns im Zentrum, die mit einer Behinderung sichtbar leben. In den Dialogworkshops lernen sie, die spezifischen Probleme, die das Leben in dieser Gesellschaft für sie mitbringt, zu kommunizieren und Menschen ohne Behinderung zu überzeugen, dass dies kein Anlass für Scham ist.
Sie sprechen für all jene mit, die noch unsichtbar sind. Denn wir müssen als Gesellschaft dahin kommen, dass Behinderungen nicht mehr als Makel und Frauen als gleichberechtigt angesehen werden.
Und gemeinsam sensibilisieren wir. Und so kam ja auch die blinde Tochter meines Nachbarn zu uns. Der Weg ist ungemein weit, aber für diese eine Frau hat es schon das Leben verändert, dass ihr Vater sie bei uns angemeldet hat, nachdem er sie jahrelang versteckt hatte. Und das ist doch schon mal ein großer Gewinn.
Mir fällt da auch direkt Aya ein. Sie lebt mit einem Bein und ohne Hände und wurde von ihrer Familie nie als Last, sondern als großes Geschenk empfunden. Das ist hier natürlich eher die Ausnahme, aber sie und ihre Familie zeigen, dass es auch anders geht. Aya studiert Pharmazie und Theologie, ist Designerin für Photoshop und kalligraphiert mit ihrem Fuß. Sie ist ein richtiges Energiebündel und hat mit Leidenschaft an unseren Trainings und Workshops teilgenommen. Sie hat jetzt die Werkzeuge an der Hand, Menschen zu überzeugen und hilft sehr aktiv dabei, ein Bewusstsein für Frauen mit Behinderungen zu schaffen. Sie ist mit ihren 22 Jahren ein richtiges Role-Model und ein Segen für uns.“
Adopt a Revolutions Förderfonds „about:syria“ unterstützt zivilgesellschaftliche Initiativen und Organisationen dabei, Dialog, Diskussion und Austausch in ihrer Projektarbeit zu etablieren. In drei bisherigen Ausschreibungen konnten sich registrierte und nicht-registrierte Initiativen aus dem Norden Syriens sowie der deutschen Diaspora auf Förderung eines Dialogprojektes bewerben. Mittlerweile werden acht Projekte gefördert.