Aktion zum Jahrestag des Chemiewaffenangriffs vom 21. August 2013.

„Die Wut richtet sich nach Innen“

Interview zum zweiten Jahrestag des Chemiewaffen-Angriffs.

Aktion zum Jahrestag des Chemiewaffenangriffs vom 21. August 2013.

Als am 21. August 2013 in der Nähe von Damaskus in großem Stile Chemiewaffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden, waren die AktivistInnen aus Erbin mit als Erste vor Ort. Sie halfen, die Opfer zu bergen und ihre Bilder, mit denen sie den grausigen Angriff dokumentierten, gingen um die Welt. Zwei Jahre später leben die Überlebenden noch immer unter der Belagerung des Assad-Regimes und werden nahezu täglich mit konventionellen Waffen angegriffen. Unmittelbar nach dem Angriff und zum ersten Jahrestag sprachen wir mit Sami, einem Aktivisten vom Komitee in Erbin, einem engen Partner vor Ort.

Kannst Du uns die Lage in Erbin zwei Jahre nach dem Einsatz der Chemiewaffen und über 1.300 Toten beschreiben?

Leider muss ich sagen, dass sich nicht viel verändert hat im letzten Jahr: Die 200.000 Menschen in der Ghouta leben noch immer unter der Belagerung des Assad-Regimes. Die Vorstädte sind abriegelt und weder Strom noch Treibstoff, Lebensmittel oder Medikamente lässt das Militär durch. Das ist wirklich frustrierend, denn dadurch bauen die bewaffneten Kräfte eine Kriegsökonomie auf. Sie sind die einzigen, die Dinge durch Tunnel und an den Checkpoints vorbei nach Ghouta schmuggeln können – und das verkaufen sie dann teilweise zum zehnfachen Preis. Das Regime lässt das zu, weil es auch wirtschaftlich davon profitiert.
Douma Außerdem hat gerade in den letzten Wochen der Angriff mit konventionellen Waffen wieder zugenommen – der Angriff auf den Markt in Douma letzten Sonntag mit 120 Toten ist nur das krasseste Beispiel davon. Das Militär sucht sich immer mehr Ziele, die möglichst viele zivile Opfer fordern. Manchmal kreisen Helikopter eine halbe Stunde lang, bis sie ein solches Ziel ausgemacht haben. Wenn Fassbomben eingesetzt werden, gibt es dann immer noch wenigstens ein paar Sekunden, um Schutz zu suchen, bei Raketen geht alles viel zu schnell.

Versprechen sich die Menschen nicht Schutz von den Bewaffneten in der Gegend?

In letzter Zeit richtet sich die Wut über solche Bombardements vermehrt auch nach innen. Zum einen, weil die Brigaden längst genauso Menschen einsperren und foltern, wie das Regime. Ich habe von einem Aktivisten gehört, der beim Regime im Gefängnis saß und bei den islamistischen Brigaden, der konnte keinen Unterschied feststellen.
Einige Teile der Opposition werden gerade so, wie das Regime, das sie bekämpfen.
demo gegen al-islam Zum anderen erfolgen die schlimmsten Angriffe immer dann, wenn die Rebellen Angriffe gegen Damaskus versuchen. Dabei sind sie nie erfolgreich – und ich bin überzeugt das liegt daran, dass ihre Geldgeber das nicht wollen. Bei jedem Vorstoß gegen die Autobahn, eine wichtige Verbindungsader des Regimes, werden sie zurückgepfiffen. Aber die Reaktion des Regimes trifft dann immer die ZivilistInnen. In letzter Zeit gab es immer mehr Demonstrationen gegen Jaish al-Islam, die Armee des Islams, die hier alles kontrolliert. Ihr Anführer, Zahran Alloush, musste sogar Delegationen aus der Bevölkerung empfangen und Zugeständnisse machen, etwa was die Freiheiten der zivilen Akteure angeht, um die Wogen wieder zu glätten.

Wer kann die Menschen dann schützen?

Als die USA nach dem Giftgas-Angriff vor zwei Jahren ordentlich Druck auf das Regime aufgebaut haben, war es auf einmal zu Zugeständnissen bereit. Solchen Druck braucht es wieder, um den Abwurf von Bomben auf die Zivilbevölkerung zu stoppen. Die Einrichtung einer Flugverbotszone war die erste Forderung von AktivistInnen nach einer internationalen Intervention. Auch wenn 2012 noch viele dachten, dass das noch mehr Tote fordern würde, wie etwa in Libyen, so müssen wir heute sagen: Eine Flugverbotszone hätte mindestens 100.000 Menschenleben gerettet.

Aber jetzt werden noch immer Chemiewaffen eingesetzt, die UN wollen untersuchen, wer dafür verantwortlich ist. Was erwartest Du davon?

Wenn jetzt noch Chemiewaffen eingesetzt werden, dann Chlorgas und nicht mehr Sarin oder VX – und das in viel kleinerem Umfang. Dann sterben vielleicht einmal fünf oder zehn Menschen, genauso wie bei konventionellen Waffen auch. Das Regime weiß, wo die Grenze ist und testet diese immer wieder aus. So wird es auch sein, wenn die Verantwortlichen für den Einsatz von Chemiewaffen gesucht werden: Alle werden die Verantwortung nach oben weitergeben, letztlich ist Assad dran, aber der wird nicht belangt, weil er irgendwie für eine Lösung des Konflikts gebraucht wird.

Wie könnte so eine Lösung für Syrien aussehen? Kann es die mit ISIS überhaupt geben?

demo gegen al-islam2Das beste wäre, wenn es schnell zu einem Waffenstillstand kommt, damit die Menschen wieder versorgt werden können. In einem nächsten Schritt bräuchte es einen Umbau des Regimes, ohne Assad und ohne die Sicherheitsapparate, denn sonst würde alles wieder genauso werden, was die Brigaden ja vormachen. Hier gibt es kein ISIS, aber nach allem was wir hören, kommen die Dschihadisten im Norden ordentlich unter Druck. Wenn es wieder einen Staat gibt, der die Sicherheit garantieren kann, werden die Terroristen im Lauf der Zeit verschwinden. Das ist mein optimistisches Szenario, das nur eintreten kann, wenn der UN-Sondergesandte de Mistura keine Fehler mehr macht und Assad irgendwann einsieht, dass es zwecklos ist. Das pessimistische Szenario ist, dass es einfach so weitergeht, bis alle noch erschöpfter sind als jetzt schon.

Das Komitee in Erbin leistet weiter zivile Arbeit in Erbin. Was macht ihr und wie kann das gelingen?

Ich fange besser damit an, was wir nicht mehr machen: Demonstrieren. Das haben längst andere übernommen, die Demos werden nicht mehr geplant, sondern es gibt inzwischen viele Menschen die das Selbstbewusstsein haben, mit ihrer Meinung auf die Straße zu gehen. Ich finde das eine gute Entwicklung. Was wir aber machen ist weiterhin Medien- und Dokumentationsarbeit. Wir dokumentieren die Angriffe, die Toten, die Proteste und veröffentlichen all das im Internet, um zu verhindern, dass all das hier vergessen wird.
Zum anderen haben wir größere Projekte aufgebaut: Mehrere Schulen, ein Zentrum für Zivilgesellschaft, einen Friedhof, damit die Toten nicht einfach wild verscharrt werden. Gemeinsam mit unseren Nachbarn in Douma richten wir eine Bibliothek ein, damit die Menschen im Belagerungszustand wenigstens geistige Nahrung haben. Das ganze funktioniert nur, weil wir uns seit Beginn der Revolution einen guten Ruf und die Unterstützung der Bevölkerung erarbeitet haben. Dadurch sind wir zwar nicht vor der Repression der Bewaffneten geschützt, aber wir können trotzdem vieles direkt vor Ort bewegen, um das Leben der Menschen zu verbessern.