OPCW-Chemiewaffen-Kontrolleure in Ost-Ghouta nach dem Giftgas-Angriff im August 2013.

Faktencheck: Wer ist wirklich für den Giftgasangriff in Ghouta verantwortlich?

Seit dem Giftgasangriff auf Khan Sheikhoun Anfang April wird in den sozialen Netzwerken wieder vermehrt über die Sarin-Attacke auf Ghouta im Sommer 2013 diskutiert. Insbesondere ein ZDF-Interview mit Michael Lüders findet große Verbreitung. In diesem führt der Publizist und Wirtschaftsberater aus, dass die Unschuld des Assad-Regimes so gut wie bewiesen sei. Was ist dran an dieser Behauptung?

OPCW-Chemiewaffen-Kontrolleure in Ost-Ghouta nach dem Giftgas-Angriff im August 2013.

Seit bald vier Jahren wütet ein unerbittlicher Streit um die Wahrheit: Wer ist für den Giftgasangriff in Ost-Ghouta verantwortlich, dem am 21. August 2013 hunderte, einigen Quellen zufolge gar mehr als 1.000 Menschen zum Opfer gefallen sein könnten?

Tatsächlich liegt bis heute vieles im Nebel. Noch immer lässt sich die Schuldfrage nicht eindeutig klären. Doch das hindert Propagandisten und Apologeten des Assad-Regimes nicht daran zu behaupten, dass es eigentlich alles ganz einfach und das Assad-Regime unschuldig sei. Derzeit kursiert ein Video hunderttausendfach im Netz, in dem der Politikwissenschaftler Michael Lüders bei Markus Lanz erklärt: „Mittlerweile wissen wir mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, dass es nicht das Regime war, das für diesen Angriff verantwortlich war.“

Doch das stimmt nicht. Lüders unterlaufen ebenso wie dem US-Journalisten Seymour Hersh, dessen Ausführungen er teilweise paraphrasiert, zahlreiche Fehler. Darüber hinaus bedient sich Lüders in seinem Interview Auslassungen wichtiger Sachverhalte, um dort Eindeutigkeit zu konstruieren, wo keine existiert.

Selektive und falsche Ausführungen
Warum wir bis heute keine endgültige Klarheit darüber haben, was an diesem 21. August geschehen ist, liegt übrigens unter anderem daran, dass die russische Regierung bis heute im UN-Sicherheitsrat eine strafrechtliche Verfolgung des Einsatzes von Chemiewaffen in Syrien blockiert. Was jedoch feststeht ist, dass das Militär des Assad-Regimes nach wie vor chemische Waffen, insbesondere Chlorgas, auch gegen zivile Ziele einsetzt.

Lüders Beweisführung hinsichtlich der Angriffe auf die Damaszener Vororte strotzt hingegen nur so von selektiven und falschen Ausführungen.

So behauptet Lüders: „Die eigenen Geheimdienste der Briten und Amerikaner haben nämlich das Giftgas untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dieses Sarin, das sie da eingesetzt haben, befindet sich nicht in den Beständen der syrischen Armee.“

Diese Geschichte stammt von Seymour Hersh. Ihr Wahrheitsgehalt ist keineswegs gesichert – der Journalist beruft sich durchweg auf eine sehr kleine Zahl anonymer Quellen. Und selbst wenn sie die Ereignisse korrekt beschreiben würden, so ist Lüders‘ Rezeption fragwürdig, denn er lässt einen sehr relevanten Punkt unter den Tisch fallen: Die Proben wurden den Briten laut Hersh vom russischen Geheimdienst überlassen. Eine lange Reihe von gefälschten „Beweisen“, erlogenen Geschichten und sonstigen Desinformationsversuchen des mit Assad verbündeten Kremls in Sachen Syrien aber sollten daran zweifeln lassen, dass hier alles mit rechten Dingen zuging.

Wer wie Michael Lüders behauptet, dass beim Thema Syrien die wahren Interessen im Hintergrund nicht angemessen beleuchtet würden, darf solche Informationen nicht einfach unterschlagen und sollte an dieser Stelle ebenso kritisch mit den russischen Interessen ins Gericht gehen, wie mit den amerikanischen.

UN: „Täter hatten wahrscheinlich Zugang zu den Chemiewaffenbeständen des syrischen Militärs“
Klarheit könnten in dieser Angelegenheit nur die UN-Experten schaffen, die in Ost-Ghouta Untersuchungen angestrengt haben. Doch diese haben nur das Mandat bekommen zu untersuchen, ob und welches Giftgas eingesetzt wurde, nicht von wem. Das Assad-Regime wiederum verweigerte ihnen das Betreten des betroffenen Gebiets fast fünf Tage lang, bombardierte die betroffenen Städte dafür aber exzessiv.

Die Syrien-Untersuchungskommission der UN wiederum schrieb in einem Bericht vom Februar 2014: „Die vorliegenden Beweise hinsichtlich der Eigenschaften, der Qualität und der Menge des Sarins deuten darauf hin, dass die Täter wahrscheinlich Zugang zu den Chemiewaffenbeständen des syrischen Militärs hatten.“ Solche und viele weitere seiner Darstellung widersprechende Informationen berücksichtigt Lüders nicht.

Stattdessen führt er aus: „Die Türkei hat ganz offenkundig diese Nusra-Front bewaffnet mit Sarin-Gas. Es gibt erste Untersuchungen der amerikanischen Geheimdienste, die man auch nachlesen kann, schon vom 20. Juni 2013, da wir ganz klar benannt: Wir wissen, dass die Türkei die Nusra-Front und andere Bewegungen mit Sarin-Gas ausgestattet hat und sie stellen selber Sarin-Gas her. Und die ersten die darüber berichtet haben waren türkische Journalisten, darunter auch Can Dündar.“

Can Dündar hat nie über Chemiewaffenlieferungen der Türkei an syrische Milizen berichtet. Er berichtete über konventionelle Waffen. Seine Ergebnisse wegen denen er verfolgt wurde legt er etwa noch einmal in diesem Artikel für den Guardian dar. Auf Nachfrage diverser irritierter Kollegen stellte Dündar mittlerweile klar, dass Lüders Behauptungen über seine Recherchen nicht zuträfen.

Ein angeblicher Geheimdienstbericht und ominöse Quellen
Es war Seymour Hersh der schrieb, dass entsprechende Geheimdienstberichte vom 20. Juni existieren. Nachlesen kann man diese, anders als Lüders behauptet, nicht: Die US-Geheimdienste bestreiten, dass solche Berichte existieren. Vor Hersh behauptete eine rechte verschwörungsaffine Website Zugang zu diesen Unterlagen zu haben. Einige Beobachter gehen davon aus, dass der Autor dieser Website (ein gelegentlicher Gast russischer und iranischer Fernsehsender und ehemaliger Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums unter George W. Bush) eine der anonymen Quellen Hershs gewesen sein könnte.

Das heißt nicht, dass absolut nichts zu finden wäre, was für die behauptete Türkei-Connection spricht. Im Mai 2013 brachte die türkische Zeitung Zaman die Nusra-Front mit Sarin-Gas in Verbindung: Mutmaßliche Mitglieder der Gruppe sollen in der Südtürkei mit zwei Kilogramm des Kampfstoffes festgenommen worden sein. Auf diesen Vorgang berufen sich auch die oben erwähnten angeblichen Geheimdienstdokumente. Hier aber ist vieles unklar: War es wirklich Sarin? Waren es Stoffe, die zu dessen Herstellung benötigt wurden? Oder aber Frostschutzmittel, das bei einigen Sarintests falschpositive Ergebnisse liefert? Die ominösen Vorgänge diesen Mais bieten viel Anlass zur Spekulation und die Informationen widersprechen sich. Zur Beweisführung taugen sie nicht, weil keine gesicherten Fakten bestehen. Teil des anschließenden Gerichtsverfahrens gegen die festgenommenen Terroristen war das Sarin jedenfalls nicht. Jedoch ist der türkischen Justiz freilich nicht zu trauen.

Was nicht in den Kram passt, wird ausgelassen
Doch auch darüber hinaus existieren viele Beweise, die die Türkeitheorie, die auf Hersh zurückzuführen ist, stark in Mitleidenschaft ziehen. Dem Journalisten sind – insbesondere bei der Entlastung des Regimes – viele Fehler unterlaufen, die bereits vielerorts zerpflückt wurden. Hersh erklärte beispielsweise dass die mit Giftgas bestückten Raketen aus einem Gebiet abgeschossen worden seien, das zu diesem Zeitpunkt unter Rebellenkontrolle gewesen sei. Das kann er jedoch nur behaupten, weil er einige Einschlagsorte unterschlägt und vor allem verschweigt, dass Regime-Truppen kurz vor dem 21. August in diesen Vorort vorgerückt waren. Die Mehrheit der Experten widerspricht seiner Darstellung. Auch kann er nicht erklären, dass diese Raketen von diesem Kaliber sich im Arsenal der syrischen Armee befinden und nur von diesem zuvor benutzt worden waren.

Die Menge des in Ghouta eingesetzten Giftgases von einer halben Tonne spricht wiederum für staatliche Produktion, was die Angaben des UN-Menschenrechtsrats weiter stützt. Der einzige nicht-staatliche Akteur, dem es bislang gelang große Mengen Sarin herzustellen, war die Sekte Aum Shinrikyo in Japan. Ihre millionenteure Fabrik ermöglichte es ihnen gerade einmal einzelne Sarin-Einheiten von acht Litern herzustellen.

Bis heute sind nur zwei Fraktionen in Syrien durch die UN eindeutig der Nutzung von Giftgas überführt worden. Das Assad-Regime und ISIS. Diese benutzten Chlor- und Senfgas. Die Nutzung von Sarin konnte niemandem eindeutig nachgewiesen werden. Nur vom Regime aber ist es eindeutig gesichert, dass es Sarin besitzt. (Anm. d. Red.: Mittlerweile wurde dem Assad-Regime der Einsatz von Sarin nachgewiesen, vgl. Nachtrag vom 30.1.2018.)

Cui bono – wem nützt es?
Der Einsatz von Giftgas ist besonders perfide. Chlorgas etwa – dessen Einsatz die UN dem Regime nachgewiesen hat – ist schwerer als Luft und sinkt dementsprechend. Das führt dazu, dass etwa jene Keller in denen sich Menschen vor Bombenangriffen zu schützen versuchen, zu Todesfallen werden, wie Human Rights Watch bemerkt. Sie zitieren einen Aleppiner Journalisten der sagt: „Wir haben uns an die Bomben und den Beschuss gewöhnt. Aber vor Chlorgas kannst du dich nicht schützen.“

Doch die Debatte um das Giftgas verengt auch den Blick auf die im syrischen Konflikt begangenen Verbrechen. Hungerblockaden, zigtausendfache Folter, Massenhinrichtungen, der systematische Krieg gegen die zivile Infrastruktur in dessen Rahmen bislang fast 800 Ärzten und Krankenhausangestellte getötet wurden, geächtete Streu-, Fass- und Brandbomben – brutaler und rücksichtsloser als das syrische Regime kann man einen Krieg kaum führen.

Selbst losgelöst von chemischen Waffen hat sich das Regime derartiger Gewalt bedient, dass sich Rehabilitierungsversuche verbieten. Darauf aber zielen es jene ab, die versuchen das Assad-Regime von der Verantwortung für den Angriff auf Ost-Ghouta freizusprechen. Das wiederum ist nicht so einfach möglich.

Wer behauptet mit absoluter Sicherheit sagen zu können, wer verantwortlich ist, der übertreibt. Wer behauptet, dass Assad entlastet sei, der lügt.


Nachtrag 10.04.2017: Am Montag hat auch die tagesschau einen Faktencheck zu Lüders‘ Auftritt bei Markus Lanz vorgelegt. Dort verweisen die Autoren noch ergänzend auf ein relevantes Zitat von Ake Sellström, der die UN-Untersuchungen in Ghouta leitete: „Wenn Sie die Theorie ausprobieren, dass es die Opposition war, dann ist sehr schwer nachzuvollziehen, wie sie bewaffnet worden sein soll. Ich habe die [syrische] Regierung mehrfach gefragt: ‚Wenn das die Opposition war – können Sie mir sagen, wie sie an Chemiewaffen gelangt ist?‘ Sie haben dafür sehr schwache Theorien, sie reden von Schmuggel durch die Türkei, Laboren im Irak. (…) Für mich ist das seltsam: Wenn sie wirklich der Opposition die Schuld geben wollen, dann sollte sie eine gute Geschichte dafür haben, wie diese an die Munition gelangt ist. Sie haben die Chance vertan, diese Erklärung zu liefern.“


Nachtrag 30.01.2018: Im Oktober 2017 legte der aus UN und OPCW bestehende Joint Investigation Mechanism (JIM) die Ergebnisse seiner Untersuchung des Giftgasangriffs auf Khan Sheikhoun am 4. April 2017 vor. Der Expertenkommission zufolge ist aller Wahrscheinlichkeit nach das Assad-Regime für das Massaker verantwortlich. Als Reaktion auf dieses Ergebnis blockierte Assads Verbündeter Russland im UN-Sicherheitsrat die Fortführung der Arbeit des JIM. Der Bericht ist auch für den Giftgasangriff auf Ost-Ghouta relevant: Experten zufolge gleicht die chemische Signatur des in Khan Sheikhoun eingesetzten Sarins dem in Ghouta benutzten. Beide stammen also höchstwahrscheinlich aus der selben Quelle.