Folterdarstellung des syrischen Künstlers Najah al-Bukai. Mit seinen Zeichnungen versucht er seine eigenen Folter-Erfahrungen zu verarbeiten.

Es geht nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit

Der Prozess in Koblenz gegen zwei Folterer des Assad-Regimes hat international viel Beachtung bekommen. Auch in Syrien wird er mit großem Interesse verfolgt. Wir haben mit unseren Partner*innen aus allen Gebieten Syriens gesprochen. Und sie sind sich einig: Dieser Prozess muss ein Anfang sein, kein Ende!

Folterdarstellung des syrischen Künstlers Najah al-Bukai. Mit seinen Zeichnungen versucht er seine eigenen Folter-Erfahrungen zu verarbeiten.

Ob Idlib, Nordost-Syrien oder Regime-Gegenden – im ganzen Land verfolgen die Menschen in Syrien den Folterprozess vor dem OLG Koblenz. Sie informieren sich über Soziale Medien, sprechen mit Syrer*innen im Exil und lesen Erklärungen, etwa vom Syria Justice and Accountability Center. Selbst die gerichtlichen Aussagen der Folteropfer werden in Syrien wahrgenommen, sobald sie online verfügbar sind. Auch die Berichte syrischer Anwälte wie Anwar al-Bunni, der selbst Zeuge im Folterprozess ist, oder Michal Shammas werden viel verbreitet.

Was die Menschen in allen Regionen Syriens eint, ist die Hoffnung, dass dieser weltweit erste Prozess wegen Staatsfolter durch syrische Geheimdienste nur ein Anfang sein wird. Denn zwar gab es in Europa bereits Prozesse gegen Mitglieder der bewaffneten Opposition oder Angehörige extremistischer Gruppen vor allem wegen Terrordelikten. Der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A. ist jedoch anders, weil zum ersten Mal Angehörige des Assad-Regimes auf der Anklagebank sitzen. Zudem handelt es sich um den ersten Prozess, in dem Personen in ihrer Rolle als Verantwortliche des Regimes zur Rechenschaft gezogen werden und nicht als individuelle Verbrecher. Es ist also ein Prozess gegen Assads systematische Politik des Folterns und der Unterdrückung der friedlichen Bewegung in Syrien.

Wir haben mit Partner*innen im Land gesprochen, wie sie den Prozess wahrnehmen und was sie sich davon versprechen.

Der Prozess offenbart der ganzen Welt die Infrastruktur und Machenschaften des korrupten Assad-Regimes, das jede Opposition unterdrückt und die Menschen und die Ressourcen unseres Landes ausbeutet.“

Sulaimann Issa, Human Rights Guardians

Das Übel an der Wurzel packen

Für die Syrer*innen ist es außerdem endlich ein positives Zeichen der Internationalen Gemeinschaft und ein klares Bekenntnis der Ablehnung und Verurteilung von Assads System. Die Hoffnung ist groß, dass sich weitere westliche Regierungen anschließen und auch in Ländern wie Schweden, Frankreich, Österreich oder Spanien ähnliche Prozesse eröffnet werden. „Der Kampf muss international geführt werden, damit sich die Täter nirgendwo mehr sicher fühlen können“, betont einer unserer Partner, der hier anonym bleiben muss, weil er im Regime-Gebiet lebt. „Sie müssen wissen und spüren, dass sie verfolgt werden und die Zeit kommen wird, in der sie sich für ihre Taten verantworten müssen.“

Der Prozess ist also nur ein erster Schritt in Richtung Gerechtigkeit für die tausenden Syrer*innen, die unter der Folter des Regimes gelitten haben und immer noch leiden. Und für sie ist klar: Das Problem muss an der Wurzel gepackt werden.

Wir haben die Hoffnung, dass zukünftig auch die Befehlshaber zur Verantwortung gezogen werden und sich eines Tages auch Bashar al-Assad vor einem Gericht verantworten muss.

Raed Razouk, Zeitung Zaitoun, Idlib

Es geht nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit

Viele Menschen haben aber auch auf den Prozess gewartet, um endlich angehört zu werden. Die Zeugen im Prozess stehen mit ihren Geschichten stellvertretend für all die Folteropfer des Regimes. „Wir alle sind Opfer von Assads Foltersystem“, erkärt Diyar vom PÊL Civil Waves Zentrum in Qamishli. „Jeder Gerichtsprozess ist eine Möglichkeit denen Gehör zu verschaffen, die sonst nicht gehört werden.“ Diyar wurde selbst zu Beginn der Revolution 2011 als 16-Jähriger inhaftiert, gefoltert, ausgehungert und gedemütigt, weil er friedlich in Qamishli für seine Rechte und Menschenwürde einstand. Zwei Wochen verbrachte er in Einzelhaft, in der ihm auch Nahrung verwehrt wurde.

Ich leide bis heute nicht nur seelisch, sondern auch körperlich unter den Folgeschäden der Folter.

Diyar, PÊL Civil Waves Zentrum, Qamishli

Der Prozess in Koblenz gibt ihm Hoffnung selbst einmal Gerechtigkeit erfahren zu können. Dabei gehe es ihm nicht um Rache, nicht darum, dass auch die damals Verantwortlichen in Haft sitzen müssten. Vielmehr wolle er Gerechtigkeit, damit die Herrschaft des Rechts gestärkt wird, was er für elementar für ein künftiges friedlichen Zusammenleben in Syrien hält.

Ohne Rechtsstaatlichkeit wird es für Gesellschaften wie unser, die so einen Krieg erlitten haben, keine Rückkehr zu einem friedlichen Zusammenleben geben.

RAED RAZOUK, ZEITUNG ZAITOUN, IDLIB

Deshalb hoffen Syrer*innen, dass alle oppositionellen und internationalen Organisationen sich dafür einsetzen, weitere Folterer vor Gericht zu bringen. Aber – auch da sind sich alle unserer Gesprächspartner*innen einig – nur wenn das bestehende Regime abgelöst wird, wird es die Möglichkeit geben, die bisher begangenen Verbrechen sinnvoll aufzuarbeiten.

Gerichtsverfahren in Syrien?

Bevor es Gerichtsverfahren in Syrien geben kann müsste, so das Argument, Assad entmachtet werden. Denn bisher sind diese Verbrechen, die Folter, die Verfolgung jedweder Opposition quasi ein Bestandteil des Regimes und könnten deshalb nicht unabhängig geahndet werden. Ähnlich brauchte es seinerzeit in Jugoslawien einen grundlegenden Regimewechsel, um Menschenrechtsprozesse führen zu können.

Die Voraussetzung für solche Folterprozesse in Syrien selbst ist der Sturz des Regimes und der Aufbau eines neuen politischen Systems, das alle Syrer*innen vertritt und auf der Grundlage von Recht, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit aufbaut.

Mohammad Shakerdy, Ziviles Zentrum Atareb, Idlib

Bis es soweit ist, sammeln und sichern Menschenrechtsaktivist*innen in Syrien so detailliert wie möglich Beweise der Menschenrechtsverletzungen, die für solche Prozesse gebraucht werden. Darunter unsere Partner*innen der Human Rights Guardians, die zur Dokumentation von Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit den Familien der Opfer in ganz Syrien zusammenarbeiten. In der Hoffnung, dass diese in der Zukunft Gerechtigkeit erfahren können.


Tragen Sie mit Ihrer Spende dazu bei, die wichtige Arbeit der Human Rights Guardians zur Dokumentation von Verbrechen in Syrien zu ermöglichen!