“Wir bitten Sie, die Namen unserer Mörder zu erinnern”

Ende Oktober fand die Verleihung des renommierten Per-Anger-Preises an unseren Partner Abdallah al-Khateeb statt. In Stockholm las ein Freund Abdallahs dessen eindringliche Rede vor, die wir hier in deutscher Übersetzung dokumentieren.

Der Menschenrechtsaktivist aus dem belagerten Damaszener Vorort Yarmouk wurde mehrmals das Ziel von Attentaten und lebt deshalb im Untergrund. Alle Hintergründe finden Sie hier.

Es ist mir eine Ehre, dass man mir diese Plattform gibt. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal vor einem Publikum gesprochen habe, lebe ich doch im Verborgenen. Und ich muss zugeben, dass es sich ein wenig komisch anfühlt von hier an Sie alle zu schreiben. Ein imaginiertes Publikum. Fast fühle ich mich wie ein alter Mann, der die letzte Nachricht seines Lebens schreibt.

Meine Damen und Herren, Frau Ministerin der Kultur und Demokratie,

seit 200 Jahren hat ihr Land keinen Krieg mehr geführt. Ich habe diesen Fakt immer und immer wieder in jedem Geschichtsbuch über Schweden gefunden, das ich finden konnte. Während ich meine Rede geschrieben habe, versuchte ich etwas zu finden, dass unsere Länder gemeinsam haben, Schweden und Syrien. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass sie sehr verschieden sind, doch wir haben etwas gemeinsam. Menschlichkeit.

Während ich aus Syrien schreibe, während die Bomben jeden Tag fallen, ist es nahezu unmöglich zu verstehen, wie ein Land wie Schweden in 200 Jahren keinen Krieg führen konnte. Wie sieht ein solches Land überhaupt aus?

Abdallah
Abdallah

Mein Name ist Abdallah al-Khateeb. Ich bin ein palästinensisch-syrischer Aktivist, geboren und aufgewachsen in Syrien. Vor 27 Jahren wurde ich in einem Camp für palästinensische Flüchtlinge am Rande von Damaskus geboren. Es heißt Yarmouk. Wenn man in einem Flüchtlingscamp geboren wird, so nennt man dich von deinem ersten Tag an Flüchtling. Und in einer Diktatur wirst du sogar zur Zahl. Zur Last.

Ich ging an die Universität um Soziologie zu studieren. Mit dem starken Verlangen die Grausamkeit dieser Welt zu verstehen. Eine Welt voller Kriege. Ich habe meinen Abschluss nie gemacht. Nicht weil ich faul oder schlecht gewesen wäre, sondern weil der Krieg Halt in Syrien gemacht hat und den Lauf unserer Leben veränderte.

2011 war ich einer von Millionen Syrer, die sich weigerten ihr Leben unter dieser 40 Jahre alten Diktatur fortzuführen. Wie gingen auf die Straßen um friedlich zu demonstrieren, um gewaltfreien zivilen Ungehorsam zu leisten. Um der syrischen Regierung zu sagen, dass wir es Leid sind, ohne Würde behandelt zu werden.

Vielleicht wundern Sie sich, dass ich heute nicht bei Ihnen bin. Tatsächlich wäre ich sehr gerne zu Ihnen gestoßen. Doch wegen der Drohungen die ich erhalte, ist es nicht sicher für mich, den Versuch zu unternehmen, die Reise zu Ihnen zu machen.

Acht Körner Reis
Ich lebe unter Belagerung. Wie eine Million weiterer Syrer im ganzen Land, die in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung leben. Wir werden für unsere einfachen Forderungen bestraft: Respekt und Freiheit.

Es ist wichtig sich ins Gedächtnis zu rufen, dass unter Belagerung zu leben nicht nur die Grausamkeit des Hungerns bedeutet. Es geht auch um den Verlust der Hoffnung.

Ich erinnere einen frühen Morgen während der härtesten Phase der Belagerung. Ich ging durch die Straßen des Camps und traf einen Jungen, vielleicht neun Jahre alt. Er beugte sich über den Boden und suchte etwas. Als ich mich näherte, schloss er fest seine Hand.

Was versteckst du?, fragte ich ihn.

Der Junge zögerte. Anstatt zu antworten öffnete er seine Faust. Er hatte acht Körner Reis versteckt. Acht kleine Körner Reis. Das war alles, was er hatte zusammentragen können. Dieser Junge sammelte seine tägliche Mahlzeit. Unter Belagerung kann das alles sein, was du kriegen kannst.

Auf welcher Seite der Geschichte willst du stehen?
Ich frage mich ständig, wie ich hier unter dieser Belagerung gelandet bin und warum ich das tue, was ich tue. Vielleicht fragen auch Sie sich das. Warum hat ein 27 Jahre alter junger Mann entschieden im Kreuzfeuer zu bleiben, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, zu gehen?

Ich denke, dass es etwas gibt, das Menschen in entscheidenden Momenten der Geschichte antreibt. Es hat nicht mit Heldenhaftigkeit zu tun. Vielleicht kann man es Prinzip nennen. Ich denke, dass es Prinzipien waren, die den Diplomaten Per Anger in den 1940er Jahren zu der Entscheidung führten, tausende verfolgte Juden zu retten. Es war Grundsätze, die ihn entscheiden ließ auf welcher Seite der Geschichte er stehen wollte. Der Seite der Unterdrückten.

Ich wurde Menschenrechtsaktivist, weil ich gesehen habe, wie friedliche Zivilisten von der syrischen Regierung ermordet wurden. Vor meinen Augen. Ich arbeite in einem Farmprojekt, weil die Menschen ohne Essen zu Tode hungern. Wieder durch unsere eigene Regierung.

Und tatsächlich verhungerten viele. 2014 starben 200 Zivilisten durch Unterernährung oder den Mangel an medizinischem Bedarfsmaterial. Ein Resultat der Belagerung, die die syrische Regierung uns auferlegt hatte. Die Frage, die wir uns heute wirklich stellen müssen, ist die: Wie kann man angesichts dieser Ungerechtigkeit nicht Aktivist werden?

Wie wir unsere Geschichte schreiben
Die Syrerinnen und Syrer sind Menschen mit Hoffnungen und Ängsten. Menschen, die einfach nur überleben und ein normales Leben führen wollen. Eines, wie Sie es leben. Was uns diesen unvorstellbaren Horror und Tod durchleben lässt, ist eine einzige Idee: Dass eines Tages Gerechtigkeit hergestellt wird.

Ich hoffe aufrichtig, dass all die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, all die Kriegsverbrechen der syrischen Regierung und der bewaffneten Gruppen, nicht unbemerkt bleiben. Zuallererst hoffe ich eines Tages Gerechtigkeit in Syrien einziehen zu sehen. 470.000 wurden getötet, 3.000 von ihnen palästinensische Syrer. Das geringste was wir fordern, ist dass die, die dafür verantwortlich sind zur Rechenschaft gezogen werden.

Nichtsdestotrotz gibt es noch eine direktere Form der Gerechtigkeit. Und auf diese können wir jetzt sofort zuarbeiten. Es geht darum, wie wir entscheiden unsere Geschichte zu schreiben. Zeichne sie auf und verteidige sie.

Eine Auszeichnung wie diese zu gewinnen bedeutet mir viel. Zum einen bin ich geehrt, durch die immense Anerkennung. Aber dieser Preis bedeutet auch deshalb viel, weil er Schwedens grundlegende Anerkennung der Opfer des syrischen Volkes über die letzten Jahre reflektiert.

Trost finden
Als ich von den Ursprüngen dieser Auszeichnung erfahren hatte, und von der Geschichte des Mannes, der ihr seinen Namen gibt, fand ich in der Courage und der Barmherzigkeit Per Angers großen Trost für mich und all die Entscheidungen die ich getroffen habe.

Diese Zeremonie ist bald vorüber und ich möchte Sie nicht davon abhalten, ihre gegenseitige Gesellschaft zu genießen oder einen anderen Tag Ihrer Leben zu leben. Doch wenn ich darf, so möchte ich Sie um eine einzige Sache bitten:

Erinnern Sie die Syrerinnen und Syrer, die 40 Jahre lang unter einer Diktatur lebten – und denen es doch gelungen ist, eine lebhafte und aktive zivilgesellschaftliche Bewegung aufzubauen und ihre Arbeit im Inneren des Landes allen Widrigkeiten zum Trotz fortzuführen.

Erinnern Sie auch jene Syrer, die während Sie hier sitzen und meinen Worten zuhören, bombardiert und vertrieben werden und den nächsten Tag vielleicht nicht erleben. Syrerinnen und Syrer, die Sie bitten die Namen ihrer Mörder zu erinnern und laut herauszuschreien.

Adopt a Revolution unterstützt das von Abdallah und seinen Verbündeten gegründete Watad Center in Yarmouk. Im März 2015 drangen IS-Dschihadisten in das Damaszener Palästinenserviertel ein und zerstörten das oppositionelle Zentrum. Dank des Einsatzes seiner AktivistInnen beim Wiederaufbau ist es mittlerweile wieder eine zivile Anlaufstelle, nun im benachbarten Yalda, und signalisiert: „Wir lassen uns nicht unterkriegen!“

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