Anfang Mai, zum Ende des Ramadan, entließ das Assad-Regime überraschend Inhaftierte aus seinen Foltergefängnissen. Die “Amnestie” erfolgte kurz nachdem ein Video internationales Aufsehen erregt hat, das ein Massakers des syrischen Geheimdienstes im damaszener Stadtteil Tadamon mit duzenden zivilen Todesopfer aus dem Jahr 2013 dokumentiert. Für die Angehörigen der verschwundenen und inhaftierten Syrer*innen ist klar: Diese Amnestie ist kein Zeichen guten Willens, sondern Ablenkungsmanöver und Drohung zugleich.
“Die neue ‘Amnestie’ des Assad-Regimes und die scheinbar ‘zufällige’ Art und Weise Häftlinge freizulassen und ihre Familien zu informieren, verstehe ich als eine Nachricht des Assad-Regimes, dass es immer noch ein ganzes Land mit Angst, kollektivem Schmerz und Ausharren regiert. Es ist eine Erinnerung an uns alle, an diejenigen, die noch in Syrien leben und diejenigen, die geflohen sind, dass dieses Regime immer noch unser Leben, unsere physische und psychische Sicherheit, unsere Hoffnung, unsere Enttäuschungen, unsere Erinnerungen, unsere Gegenwart und unsere Zukunft und unsere ganze Existenz kontrolliert. Es kann jeden unserer Versuche zerstören, die Integrität unseres Geistes und Herzens zu bewahren, selbst wenn wir uns auf unterschiedlichen Kontinenten befinden”, kommentierte die syrische Aktivistin Wafa Mustafa, deren Vater Ali Mustafa seit über acht Jahren vermisst wird, die Freilassung von circa 200 Personen aus Assads Foltergefängnissen am vergangenen Wochenende.
Die ‘Amnestie’ erfolgte am Ende vor dem Hintergrund des kurz zuvor bekannt gewordenen Tadaman-Massakers. Dabei wurden duzende Zivilist*innen gezielt getötet, darunter auch Frauen und Kinder. Ein Video, das die Hinrichtungen, das Massengrab und die spätere Verbrennung der Opfer zeigt, verbreitete sich aufgrund eines Berichtes des Guardian rasant in den sozialen Netzwerken. Eine Familie in Mainz erkannte im Video ihren Sohn, Waseem, damals 34 Jahre alt, der seit 2013 als verschwunden galt. Der syrische Diktator Assad bezeichnete die Videoaufnahmen in einem Interview hingegen als gestellt und bestritt die Verantwortung für das Massaker.
Kurz darauf verkündete das Assad-Regime dann die Freilassung einiger Gefangener. Tausende Angehörige versammelten sich daraufhin im Zentrum von Damaskus – bangend und hoffend, dass ihre Liebsten unter den wenigen Freigelassenen sein würden.
Emotionale Geiselhaft
Unsere Herzen brechen, während wir mit ansehen müssen, wie sich Hunderte von Familienangehörigen der Inhaftierten nach dem jüngsten Amnestiedekret in Damaskus versammeln.
Families4Freedom
Die Amnestie bewegte nicht nur die Angehörige in Damaskus, sondern auf der ganzen Welt. Am Samstag fand in Berlin eine Mahnwache statt, bei der syrische Aktivist*innen und Angehörige an die Verschwundenen und Inhaftierten erinnerten und ihrer Frust und Wut Ausdruck verliehen. “Unsere Herzen brechen, während wir mit ansehen müssen, wie sich Hunderte von Familienangehörigen der Inhaftierten nach dem jüngsten Amnestiedekret in Damaskus versammeln. Wir leben seit Jahren mit dem ständigen Warten, der Ungewissheit und der Hoffnung, dass unsere Liebsten zurückkommen, und unser Schmerz wird wieder erneut entfacht, während wir zusammen mit Tausenden von Familien in Syrien und im Ausland darauf warten müssen, Neuigkeiten über unsere zu Unrecht inhaftierten Lieben zu hören,” erklären die Aktivistinnen der Families4Freedom in einer Stellungnahme.
Seit Jahren warten Familienangehörige wie Wafa vergebens auf Nachricht von ihren Liebsten. Nach Schätzungen des Syrian Network for Human Rights (SNHR) befinden sich noch immer 132.000 Syrer*innen in Assads Folterknästen, nicht mit eingerechnet die circa 87.000 Verschleppten, deren Schicksal bis heute ungewiss ist. Besonders vor dem Hintergrund erscheint die Amnestie als ein zynischer Schachzug des Regimes. In den sozialen Netzwerken zirkulieren etliche Videos von verzweifelten und zugleich hoffnungsvollen Angehörigen, die Gefangenen bestürmen, um sie um Informationen zu ihren Angehörigen zu bitten. Hast du ihn gesehen? Lebt er?
Die Unsicherheit, was mit den Familienangehörigen passiert ist, ist ein Form psychologischer Folter. Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen würde den Familien die Möglichkeit geben, einen Umgang mit dem Verlust zu finden und ihre Angehörigen zumindest verabschieden zu können. Während das Assad-Regime weiterhin Auskunft über den Verbleib tausender Inhaftierter verweigert, hält es durch willkürliche Freilassung einzelner Personen auf eine perfide Art Hoffnung bei den Angehörigen aufrecht.
Die Drohung: Doch, es kann noch schlimmer werden!
Gleichzeitig wird die aktuelle Amnestie von vielen Syrer*innen auch als Drohung verstanden. Das Assad-Regime hat Syrien schon vor der Revolution mit Angst regiert. Die Amnestie ist auch eine Warnung, was passieren kann, sollte sich die Bevölkerung noch einmal gegen das Regime wenden. Sie vermittelt den Syrer*innen im In- und Ausland, dass sie noch immer durch das syrische Regime in Geiselhaft genommen sind, weil das Regime noch immer das Schicksal ihrer Liebsten kontrolliert. Es ist eine Warnung, die besagt: Doch, es kann noch immer schlimmer werden!
Das Regime kann der Bevölkerung alles nehmen, sogar ihre Identität!
Bilder aus Damaskus zeigen den alarmierenden körperlichen und seelischen Zustand der Freigelassen. Fast alle haben mehrere Jahre in Assads Gefängnissen verbracht, manche mehr als acht Jahre. Einige können sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern. Die gravierende wirtschaftliche Lage in Syrien gibt oft den Eindruck, dass es nicht noch schlimmer werden kann. Die Amnestie erinnert die syrische Bevölkerung daran, zu was das Regime fähig ist: Es kann ihnen alles nehmen, sogar ihre Identität!