Die syrische Verfassung sichert Frauen seit 1973 dieselben Rechte wie Männern zu. Aber: Papier ist geduldig. Denn die islamische Rechtsprechung ist eine Hauptquelle der syrischen Gesetzgebung, beispielsweise im Personenstandsrecht. Dadurch werden durch unterschiedliche Interpretationen des Koran Frauen gesetzlich zum Teil massiv benachteiligt.
Auch aufgrund sozialen Drucks, mangelnden Selbstbewusstseins und fehlender Ausbildung behielten die Männer in der Regel die Kontrolle über das soziale und wirtschaftliche Leben. Bestrebungen, die Benachteiligung abzuschaffen und marginalisierte Frauen zu unterstützen, waren und sind unter dem Assad-Regime kaum möglich.
Der Preis des Frauseins
Zwar setzt sich das Assad-Regime in der Theorie für Frauenrechte ein: Die staatliche Frauenunion soll der Benachteiligung von Frauen entgegenwirken. Diese Institution dient allerdings vordergründig der Propaganda des Regimes – echte selbstbestimmte Arbeit findet hier nicht statt. Ganz im Gegenteil: Als Teil seiner Kriegsstrategie gegen Oppositionelle lässt das Assad-Regime gezielt Frauen willkürlich verhaften, foltern und systematisch vergewaltigen.
Erst mit dem Ausbruch der Revolution 2011 hat sich die Rolle der Frau geändert. Viele Männer sind in Syrien inhaftiert und getötet worden oder leben im Ausland, dessen oft restriktive Asylgesetze einen Familiennachzug unmöglich machen. Dadurch finden sich Frauen nun oft in der Rolle der (Allein-) Versorgerin wieder, die von dschihadistischen Extremisten und dem Assad-Regime gleichermaßen bedroht werden.
Frauenzentren für Gleichberechtigung
Vor diesem Hintergrund haben Frauenrechtler*innen in den letzten Jahren in den oppositionellen Regionen echte sowie selbstbestimmte und von staatliche Autoritäten unabhängige Frauenzentren gegründet, beispielsweise in der Provinz Idlib oder den kurdischen Gebieten wie Qamishli. Hier finden Frauen Schutz, Beratung und Empowerment. Alle Zentren eint ein Ziel: Eine gewaltlose demokratische Gesellschaft zu errichten, in der Frauen die gleichen Rechte und Pflichten haben wie Männer.
Die Basis dazu bilden Hilfe zur Selbsthilfe-Projekte, beispielsweise (politische) Alphabetisierungskurse, Schulungen zu traumatherapeutischen Behandlungen, Handarbeitskurse oder Projekte zu gewaltfreier Bildung in Form von Dialogformaten und Workshops mit Frauen, Kindern und Lehrer*innen. Das kostenlose Angebot wird von den Teilnehmerinnen begeistert angenommen – die Nachfrage ist sehr hoch. Teilweise finden mehr als fünf solcher Kurse pro Woche mit 20-25 teilnehmenden Frauen in geschützten Räumen statt.
Hilfe zur Selbsthilfe
In der Region Idlib ist das Leben für Frauen besonders schwierig. Hier leben derzeit ca. drei Millionen Zivilist*innen, rund die Hälfte von ihnen sind Binnenflüchtlinge. Sie stehen unter Dauerbeschuss des Assad-Regimes, werden durch die Extremisten der dschihadistischen Miliz Hai‘at Tahrir al-Sham (HTS) bedroht und müssen sich jeden Tag neu Gedanken machen, wie sie ihre Kinder versorgen können. Unsere Partner*innen vor Ort, beispielsweise das Women Support and Empowerment Center oder das Dammeh Frauenzentrum, fördern ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit durch Ausbildung.
Mit Handarbeits-, Computer-, Alphabetisierungs- und Englischkurse versuchen die Aktivist*innen eine Perspektive für die ärmsten der in Idlib lebenden Frauen zu bieten, die vertrieben oder verwitwet allein für ihr eigenes Überleben und das ihrer Kinder verantwortlich sind. Die vermittelten Fähigkeiten eröffnen den Frauen die Chance auf ein kleines Einkommen und geben ihnen ein Stück soziale Sicherheit und Eigenständigkeit zurück – das fördert auch das Selbstbewusstsein der Frauen.
Wie Idlib ist auch Qamishli in der Provinz Hasaka zum Zufluchtsort für Menschen aus anderen Regionen geworden, weil das kurdische Gebiet keinen Bombardierungen ausgesetzt ist. Für unsere Partner*innen-Organisationen wie das Sawiska Frauenzentrum oder das PÊL Civil Waves Zentrum stehen daher die Vernetzung der Frauen und der Zugang zum Arbeitsmarkt im Vordergrund – insbesondere für Frauen aus den ländlichen Gebieten.
Rechtsberatung und Empowerment
Neben den Alphabetisierungskursen und dem ökonomischen Empowerment zielt die Arbeit der Frauenzentren ebenfalls darauf ab, Frauen politisch zu empowern. Dazu schaffen sie vor Männern und Gewalt geschützte Räume, in denen sich Frauen miteinander austauschen können. Zudem führen die Aktivist*innen die Frauen über Vorträge und Veranstaltungen an ganz unterschiedliche Themen heran: Frauenrechte, Demokratie und Gleichberechtigung. Gewalt in der Familie, Scheidung, Eigentum oder Kinderehen werden dabei genauso behandelt, wie politische Grundlagen, beispielsweise die Funktionsweisen einer Demokratie oder von Wahlen.
Wir schaffen bei den Frauen ein Bewusstsein für ihre politischen und sozialen Rechte und stärken ihre Entscheidungsbefugnis im privaten und gesellschaftlichen Bereich.
Huda Khaity, Leiterin des Women Support and Empowerment Center Idlib
Aus gutem Grund: Derzeit sind Frauen bei politischen Gesprächen, die beispielsweise die Zukunft Syriens betreffen, nicht gut vertreten – sie fehlen am Verhandlungstisch. „Wir haben die Vision, dass Frauen in den kommenden fünf Jahren Teil von Gemeinderäten werden“, erklärt Huda. Deshalb ist die Bildung von Frauen auch im Hinblick auf die Zukunft Syriens besonders wichtig. Politische Bildung will die Voraussetzungen für die Menschenrechtsidee der gleichberechtigten gesellschaftlichen und politischen Teilhabe schaffen.
Psychosozialer Support
Damit das gelingt, braucht es nicht nur gebildete, sondern auch gestärkte Frauen. Zum Empowerment gehört daher auch die psychosoziale Beratung von Frauen, die Gewalt erlebt und Traumata erlitten haben, beispielsweise durch Vergewaltigungen, den Verlust eines Familienmitglieds oder Bombenangriffen. In den Frauenzentren bekommen sie psychologische Unterstützung, um die körperlichen und seelischen Verletzungen zu lindern und Traumata zu überwinden.
Die psychosoziale Hilfe schließt dabei die Familien und die Gesellschaft im Umfeld der Opfer ein: Sie werden über Gewalt und ihre Folgen, über Gewaltvorsorge und Konfliktlösungen aufgeklärt. Diese Sensibilisierungsarbeit zielt auf ein friedliches Mit- und Nebeneinander der Geschlechter ab – weg von einem Gegeneinander und einer gewalttolerierenden Atmosphäre.
Solidarität mit lokalen Partner*innen
In den Frauenzentren finden sich Frauen mit verschiedenen Hintergründen zusammen, die sich gemeinsam fortbilden und gegenseitig stark machen – Junge, Alte, Alteingesessene und aus anderen Landesteilen vertriebene Frauen aus den Flüchtlingscamps. Gemeinsam bilden sie sich fort und machen sich gegenseitig stark. Zusammen versuchen sie dem alltäglichen Terror des Regimes als auch den dschihadistischen Milizen standzuhalten. In Dialogformaten tauschen sie ihrer Erfahrungen und Geschichten aus und bauen dabei Vorurteile ab – das stärkt nicht nur das Selbstwert-, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl.
Nicht nur für die Frauen selbst, sondern auch für die Zukunft Syriens ergeben sich dadurch wichtige Lektionen und Chancen. Wir wollen sicherstellen, dass die Stimmen der Frauen gehört werden sowie ihr Schutz und ihr Zugang zu Hilfe gesichert sind.