Die Bombardierungen der Region Idlib durch das Assad-Regime und seinen russischen Verbündeten hat eine neue Eskalationsstufe erreicht: Am vergangenen Sonntag setzten sie international geächtete Streubomben in den westlichen Außenbezirken Idlibs ein. Die Region ist dicht gesät mit Flüchtlingslagern von Binnenvertrieben (IDP). Mindestens sechs IDP-Camps hat es unmittelbar getroffen: Maram, Watan, Wadi Hajj Khaled, Kafr Rohin Water Station Camp, Morin Village Camp, Ba’aba Camp. Ein Versehen ist ausgeschlossen – auch weil Raketen und Bomben auf zivile Einrichtungen wie Schulen, Wohngebäude und Krankenhäuser zur Kriegsstrategie Russlands und des syrischen Diktators Assad gehören.
Die Frage ist nicht ob, sondern wie viele es trifft
Bei den Angriffen wurden mindestens neun Menschen getötet, darunter vier Kinder, das jüngste Opfer ist erst vier Monate alt. Mindestens 75 weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt und mindestens 400 Familien sind erneut zu Vertriebenen geworden. Sie fliehen vor den Bomben weiter in den Norden. Zudem werden derzeit aus Sicherheitsgründen und Angst vor weiteren Angriffen Camps geräumt, die zwar selbst nicht getroffen wurden, sich jedoch nah an den betroffenen Camps befinden. Darunter auch ein Camp, in dem unsere Partnerin Huda Khayti vom Women Support and Empowerment Center aktiv ist, um dort den Ärmsten der Armen zu helfen. Wohin sie sollen und wie sie zukünftig versorgt werden können, ist unklar. Damit haben die gezielten Angriffe weitreichende und bedrohliche Folgen für weitere Tausende Menschen, die überlebt haben oder nicht unmittelbar betroffen waren.
Tod und Verwüstung in den Camps, in dem Binnenvertriebene untergekommen waren
Eines der direkten Opfer der Angriffe ist Amer Ahmed Al-Ali, der gebürtig aus der Stadt Hesh (Idlib) stammt und vor ein paar Jahren in die Türkei geflohen war. Von dort wurde er erst vor knapp zwei Monaten in die von Erdoğan als „sicher“ bezeichnete Lager im Norden Syriens abgeschoben. Jetzt ist er tot.
Obwohl klar ist, dass Syrien nicht sicher ist, werden immer mehr schutzsuchende Syrer*innen aus der Türkei dorthin abgeschoben. Allein im ersten Halbjahr 2022 haben die türkischen Behörden Hunderte syrische Schutzsuchende festgenommen, inhaftiert und nach Idlib abgeschoben. Ob zu Hause, an ihren Arbeitsplätzen oder auf der Straße – sie sind nirgendwo sicher und werden willkürlich verhaftet, meist auch misshandelt und geschlagen. Im Zuge der Abschiebungen wurden zudem alle dazu gezwungen, ein Formular zu unterschreiben, das eine „freiwillige Rückkehr“ bezeugen soll. Unmittelbar im Anschluss wurden sie zur Grenze nach Nordsyrien verbracht und dort unter Waffengewalt zur Überquerung gezwungen. Unter den Abgeschobenen sind auch unbegleitete Kinder. Viele stammen ursprünglich aus Gebieten, die unter Assads Kontrolle stehen. Dahin zurück können sie nicht. Ihnen bleibt nur Unterschlupf in einem der heillos überfüllten und humanitär massiv unterversorgten IDP-Camps in Idlib zu finden.
Die White Helmets arbeiten daran Blindgänger aufzuspüren und gezielt zu zerstören, damit es nicht noch weitere Todesopfer gibt
Bruch des humanitären Völkerrechts, Kriegsverbrechen und kein Ende?
Auch wenn sie die Hölle der Zelte verlassen möchte – wenn der Preis für die Rückkehr in ihre Heimat die Versöhnung mit Assad ist, dann lehne sie ab, sagte eine ältere Frau und Überlebende in einem Camp nach den Angriffen. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera (letztere grassiert tatsächlich derzeit als Epidemie in Syrien) – eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Und politisch auch gar nicht gewollt, denn die Grenzen zur Türkei sind auch aufgrund des EU-Türkei-Deals geschlossen. Nur deshalb sitzen Millionen Menschen in Zelten daneben, sind weder vor Hitze noch vor Kälte geschützt – und jetzt wiederholt direkte Zielscheibe des Assad-Regimes.
Die Vereinten Nationen (UN) geben sich zwar zutiefst besorgt über die Eskalation in Idlib, kommen aber über eine Forderung an alle Parteien, sich an den Waffenstillstand zu halten, nicht hinaus. Eine leere Worthülse, denn der im März 2020 von Putin und Erdoğan ausgehandelte Waffenstillstand für Nordwest-Syrien wird seit seinem Bestehen kaum beachtet. Lediglich die Intensität der Bombardierungen hatte phasenweise abgenommen. Eskalationen gab es jedoch immer wieder, zuletzt zu Beginn dieses Jahres. Betroffen war damals ebenfalls ein kleines Flüchtlingslager. Konsequenzen hatte das bisher keine.
Es braucht jetzt einen humanitären Korridor
Dabei kann es nur eine Konsequenz geben: Wenn wir die Menschen vor Ort nicht schützen können, müssen wir sie da rausholen! Wie bei der Ukraine könnte die Europäische Union den zwischen den türkischen Grenzmauern, der Frontlinie und den Bomben von oben eingekesselten Menschen eine Hand reichen, indem sie Erdoğan die Grenzen öffnen lässt und selbst viel mehr Geflüchtete aufnimmt. Dafür braucht es jetzt einen humanitären Korridor und ein Ende des EU-Türkei-Deals, der Millionen Menschen im Elend hält und den Bombardierungen schutzlos ausliefert. Zudem sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten anerkennen, dass die Türkei ihre Kriterien für ein sicheres Drittland nicht erfüllt und ihre Finanzierung von Migrationsabschiebehaft und Grenzkontrollen aussetzen, bis die Zwangsabschiebungen aufhören. Gewollt ist das aber nicht.
Währenddessen geht das Bomben unaufhörlich weiter.