Souad in ihrem Frauenzentrum “Makers of Change” in Idlib

“Sind das jetzt alles Terroristinnen?”

Wie bringt man eigentlich Frauen aus allen Gebieten Syriens an einen Tisch? Geht nicht? Geht wohl. Unsere Partnerin und Gründerin des Frauenzentrums Makers of Change Souad, hat ein landesweites Frauennetzwerk initiiert. Im Interview erzählt sie von ihrer Arbeit, gegen welche Widerstände sie kämpfen muss und von ihren gesellschaftlichen Errungenschaften.

Souad in ihrem Frauenzentrum “Makers of Change” in Idlib

Das Interview führte Pascale Müller

Du hast 2014 inmitten der Revolution ein Frauenzentrum gegründet. Warum in dieser Zeit?

Frauen werden von der Gesellschaft benachteiligt – damals wie heute. Mit der Revolution sahen wir die Chance, Frauen einen Raum zu eröffnen, in dem sie sich emanzipieren können. Wir konnten nicht warten bis das Regime weg ist und Stabilität eintritt, dann hätten wir keine Chance mehr gehabt durchzudringen. Deshalb mussten wir den Zeitpunkt nutzen. Trotz des Gegenwindes, der uns auch innerhalb der Revolution entgegenschlug. Dabei ist unsere feministische Arbeit eigentlich das Herz der Revolution. Es geht bei doch nicht allein um den Sturz des Regimes, sondern es ist eine Revolution, die alle Formen von Unterdrückung abschaffen will. Und dazu gehört natürlich auch ein patriarchales, unterdrückerisches System.

Mit welchem Ziel hast du Makers of Change ins Leben gerufen?

Das Wichtigste für uns war zunächst Frauen berufliche Perspektiven zu bieten. Denn im Krieg wurden sie oft zu den Alleinernährerinnen ihrer Familie. Wir haben aber schnell festgestellt, dass Fortbildungen alleine nicht reichen. Es geht ja nicht nur darum, dass Frauen jetzt alleine ihre Familien irgendwie ernähren müssen.

Sondern ich hatte diese Initiative auch gestartet, weil ich die für uns Frauen traditionell vorgesehenen Rolle durchbrechen und dafür sorgen wollte, dass Frauen nicht einfach nur als Angestellte ihrer Familie gesehen werden. Und ich wollte Frauen empowern mehr Selbstbewusstsein zu erlangen. Sie haben auch eine Stimme und sowohl gesellschaftliche als auch poltische Forderungen.

Welche wären denn so zentrale Forderungen?

Es gibt viele, die auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau abzielen. Beispielsweise werden Frauen in der Zivilgesellschaft schlechter bezahlt, deshalb fordern wir gleiche Löhne in den zivilen Zentren. In ganz Syrien werden auch Führungspositionen immer mit Männern besetzt ohne auf die Qualifikation zu schauen. Die Diskrimierung aufgrund des Geschlechts muss ein Ende haben. Ein großes Problem insbesondere in Idlib ist übrigens der Mutter- und Arbeitsschutz. Der gilt nur eine Woche, aber Frauen können nicht eine Woche nach der Geburt wieder arbeiten. Müssen sie aber, ansonsten werden sie entlassen.

Und ein weiterer Punkt ist, dass bei akuten Notfällen die großen Organisation, die finanziell gut aufgestellt sind, viel auf freiwillige Hilfe und damit unbezahlte Arbeit setzen. Das ist Ausbeutung und geht so nicht.

Wie müssen wir uns eure Arbeit konkret vorstellen?

Als ich damals das Zentrum gegründet habe, war die Arbeit zunächst lokal zentriert. Reisen war unmöglich, deshalb haben Frauen aus der gleichen Gegend zusammengearbeitet und man hat sich auf den eigenen Lebensraum konzentriert. Vor drei Jahren wurde Kafranbel aber vom Assad-Regime eingenommen und viele vertrieben. Ich bin nach Idlib gegangen und habe das Zentrum dort wieder aufgebaut. Kurz darauf begann die Corona-Pandemie, deshalb haben wir uns dann online organisiert. Das war eine echte Chance, denn so konnten wir Frauen aus verschiedensten Regionen Syriens vernetzen und viele Organisationen – auch internationale wie beispielsweise EuroMed –, aber auch die feministische syrische Bewegung konnten so partizipieren.

Dadurch kam das Bewusstsein auf, dass wir syrischen Frauen viel zu wenig miteinander reden und es unterschiedliche Lebensrealitäten gibt. Die Neugier war aber groß. Da treffen dann auf einmal Frauen aus Suweida, das unter Regime-Konrolle ist, auf Frauen aus Idlib. Und die Frage stand im Raum: Sind das jetzt alles Terroristinnen? Deshalb war allein die bloße Kommunikation miteinander, die über die gesamte Zeit des Krieges auch gezielt verhindert wurde, total wichtig, um allein diese Vorstellungen voneinander zu durchbrechen. Freundschaften wurden aufgebaut und Bande geknüpft, die sich nicht an solchen räumlichen Grenzen oder Vorurteilen orientieren.

Wie sah das erste Treffen der Frauen aus unterschiedlichen Gebieten dann aus?

Das erste Online-Treffen war kurz nachdem Corona angefangen hat. Vor dem Meeting war klar, dass Frauen dabei sein werden, die in Regime-Gegenden leben. Wir können diese Frauen nicht in Gefahr bringen, deshalb haben wir uns vorher hier mit den Frauen von Makers of Change in Idlib auf Sprechregeln geeingt. Statt von der Revolution zu reden, sprachen wir von einer Krise. Assads Militär wurde allgemeiner zu dem Militär umformuliert. Absolutes No Go war auch darüber zu sprechen, wie beispielsweise Assads Truppen zurückeroberte Gebiete ausrauben. Stattdessen wollten wir uns darauf konzentrieren, dass wir alle Frauen sind, die im zivilen Bereich arbeiten.

Zu unserer Überraschung haben die Frauen aus Regime-Gegenden selbst diese Themen angesprochen. Die Frauen aus Suweida zum Beispiel haben von sich aus davon erzählt, wie das Militär plündert und macht, was es will. Da wurde uns allen klar: Dieser Konflikt in Syrien betrifft uns alle, nicht nur uns hier in Idlib. Obwohl wir eigentlich alle unter verschiedenen politischen Akteuren leben, ist unsere Realität erschreckend ähnlich. Alle werden unterdrückt, alle leiden unter hohen Mieten, Inflation und Vetreibung, alle kennen Plünderungen und befinden sich in einem stetigen Überlebenskampf – diese Erkenntnis hat das Gemeinschaftsgefühl bestärkt und ein gegenseitiges Grundvertrauen geschaffen.

Zudem war es inspirierend zu hören, wie die Frauen in Suweida die Autos der Plünderer angezündet haben, sodass sie die Beute nicht abtransportieren konnten …

Du hast es ja schon angesprochen: Es gab Sprechregeln, um insbesondere die Frauen in den Regime-Gegenden nicht in Gefahr zu bringen. Aber wie sicher ist die Online-Kommunikation denn überhaupt?

Unsere Meetings laufen über Zoom. Wir benutzen Fake-Namen, niemals die echten. Auch die Kameras bleiben aus. Die Frauen aus Assad-Regime Gegenden, die sich kennen und aus derselben Gegend kommen, organisieren sich in kleinen Gruppen und schalten sich aus privaten Räumen dazu. Die Sicherheitsvorkehrungen sind aber nicht nur für die Frauen aus Regime-Gegenden wichtig. Es sind beispielsweise auch Frauen aus Raqqa dabei – dort gilt Idlib als die Hochburg des islamistischen Terrorismus, weil hier die HTS dominiert. Sie haben Sorge mit der HTS in Verbindung gebracht zu werden.

Wir hier in Idlib werden hingegen in Ruhe gelassen. Aber auch wenn wir größere Freiheiten haben als in anderen Gegenden, müssen wir natürlich auch vorsichtig sein. Wenn die HTS wüsste, dass wir mit Frauen aus Regime-Gegenden in Kontakt sind, würde uns vorgeworfen, dass wir Agentinnen des Regimes seien.

Wie läuft so ein Treffen ab? Bei so vielen Frauen mit unterschiedlichen Backgrounds, Lebensrealitäten und Meinungen: Wie stellt ihr sicher, dass es konstruktive Sitzungen sind und alle für sich und ihre Arbeit etwas mitnehmen können? 

Bei jedem Treffen ist eine Trainerin dabei, die moderiert und anleitet. Aber natürlich läuft es nicht immer konfliktfrei. Manchmal sind es schon Kleinigkeiten, die eskalieren und dann eingefangen werden müssen. Es gab beispielsweise einmal eine Aufgabe in einem Kommunikations-Training, die in einzelnen Gruppen bearbeitet werden sollte. Die Gruppe in Idlib war sehr schnell und eine Frau sagte dann “Hey, wir sind viel schlauer als ihr alle. Wir sind schon fertig.” Es mag ein harmloser neckischer Satz sein, aber vor allem die Frauen in Raqqa haben sich auf die Füße getreten gefühlt.

Aus Gründen: In Raqqa ist die gesellschaftliche Situation von Frauen extrem schlecht und die politischen Autoritäten mischen sich massiv in die Frauenarbeit ein, so dass sie selbst nicht viel weiterentwickeln und nur begrenzt arbeiten können. Es ist ein Privileg, dass wir hier in Idlib irgendwie eine starke Frauenbewegung aufbauen konnten. Da müssen wir uns selbst sensibilisieren und können uns nicht über die anderen lustig machen. Aber auch das gehört zum Lernen dazu.

Was treibt dich in deiner Arbeit an?

Was mich am meisten antreibt, sind die Herausforderungen. Ich bin einfach eine Kämpferin und gebe nicht auf. Als ich Makers of Change gegründet habe, gab es viel Gegenwind aus der Gesellschaft. 2016 wurde es dann besonders heikel: Ich wurde in den lokalen Stadtrat entsandt und war dort die einzige Frau unter 30 Männern. Ich wurde von allen Seiten angegriffen, mein kleiner Sohn wurde auf einmal gehänselt und in der Schule gemobbt, sodass er nicht mehr hingehen wollte. Meine ganze Familie stand im Kreuzfeuer, weil ein weibliches Mitglied im Rat nicht einfach akzeptiert wurde. Ich habe mich aber nicht einschüchtern lassen und bin geblieben. Ich kann nicht einfach auf halbem Weg umdrehen – zu viele Frauen würden dann auch ihren Mut und iher Hoffnung verlieren. Ich möchte auch ein gutes Vorbild für meine Töchter sein: Sie sollen lernen, dass man Herausforderungen meistern kann und Aufgeben keine Option ist, auch wenn es negative Auswirkungen haben kann.

Und es gibt ja auch Erfolge, für die sich jeder Kampf lohnt. Beispielsweise haben wir Workshops zum Thema Frühehe gemacht. Einige Mütter haben sich danach aktiv dafür eingesetzt, dass ihre Töchter wieder zur Schule gehen können und haben dem Mann zu Hause Parole geboten. Das ist sehr mutig, aber notwendig. Letztendlich entscheiden nach wie vor immer noch primär die Männer über die Schicksale der Frauen, deshalb ist es wichtig, dass wir eine Lobby aufbauen.