Flüchtlingslager Arsal, Libanon
Im Libanon – etwa hier im Flüchtlingslager Arsal – werden Syrer*innen massiv unter Druck gesetzt, nach Syrien zurückzukehren. Foto: UNHCR

System Assad: Willkür ist kein Bug, sondern ein Feature

Das Assad-Regime und seine russischen Verbündeten verbreiten international, Syrien sei wieder sicher und Geflüchtete könnten zurück. Tatsächlich wagen nur wenige die Rückkehr – aus Furcht vor Willkür und Verfolgung. Ein neuer Bericht des SNHR unterstreicht: Diese Furcht ist begründet.

Flüchtlingslager Arsal, Libanon
Im Libanon – etwa hier im Flüchtlingslager Arsal – werden Syrer*innen massiv unter Druck gesetzt, nach Syrien zurückzukehren. Foto: UNHCR

Mohammad al Yasin aus Hama floh 2012 vor dem Krieg in Syrien nach Ägypten. Weil er dort im Februar 2019 keine Aufenthaltserlaubnis mehr erhielt, bereitete er seine Rückkehr nach Syrien vor. Er nahm Kontakt auf zu den syrischen Sicherheitsbehörden, um seinen Status zu klären. Ihm wurde zugesichert, dass er sich nach der Rückkehr erst nach einer dreimonatigen Schonfrist zum Militär melden müsse. 

Aber schon kurz nach seiner Rückkehr wurde er an einem Checkpoint festgenommen und zusammen mit anderen Wehrdienstentziehern in einer Polizeistation inhaftiert. Seine Frau konnte ihn dort noch einmal besuchen, seitdem hat sie ihn nicht mehr wiedergesehen. Nur einmal noch kann sich Mohammad bei ihr per Telefon melden – aus der Wüste bei Deir Ez-Zour, wo er ohne militärische Ausbildung an die Front geschickt wurde. Seitdem gibt es von ihm kein Lebenszeichen mehr – er ist verschwunden.

638 dokumentierte Fälle von „verschwundenen Rückkehrern“

1.916
dokumentierte Fälle von willkürlich inhaftierten Rückkehrer*innen

Der Fall von Mohammed findet sich in einem aktuellen Bericht des Syrischen Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) zur Situation von syrischen Geflüchteten, die nach Syrien zurückkehren. In vielerlei Hinsicht ist sein Fall kein Einzelfall: Im Zeitraum von Januar 2014 bis August 2019 konnte SNHR 1.916 Fälle willkürlicher Inhaftierungen von Personen dokumentieren, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt waren. 

Von den 1.916 Inhaftierten wurden 1.132 wieder freigelassen, 784 waren auch im August 2019 noch inhaftiert, 638 von ihnen wurden Opfer der Praxis des “Verschwinden-Lassen”. 15 der inhaftierten Rückkehrer starben unter Folter. Viele der Freigelassenen wurden SNHR zufolge später wieder inhaftiert oder zwangsrekrutiert. 

Mehr zum Thema
Informationen und Quellen zum Thema Rückkehr: »10 Fakten zu Syrien«, Kapitel 2.3

Die vom SHNR sorgfältig erhobenen Daten sagen wenig aus über die tatsächliche Zahl der von Repressionen betroffenen Rückehrer*innen. Viele Fälle werden weder dem SNHR noch anderen bekannt, weil die Hinterbliebenen sich nicht trauen, öffentlich über das Schicksal ihrer Angehörigen zu sprechen – aus Angst sonst selbst noch zu verschwinden.

Sicherheitsgarantien des Regimes sind wertlos

Die meisten der Rückkehrer*innen, deren Schicksal von SNHR recherchiert wurde, hatten – genau wie Mohammed – vor der Rückkehr mit den syrischen Behörden ihren Status geklärt und dabei höchstwahrscheinlich eine sogenannte Taswiya erhalten, eine Art Unbescholtenheits-Bestätigung. Doch wie die fast 2.000 von SNHR dokumentierten Fälle zeigen, ist eine Taswiya keine Sicherheitsgarantie. Ein Grund: Die Geheimdienste führen unterschiedliche Fahndungslisten. 

Wer bei einem Geheimdienst als unbescholten gilt, kann trotzdem von einem anderen Dienst gesucht werden. Laut SNHR – und auch nach der Erfahrung zahlreicher Syrer*innen – ist es sehr aufwendig und manchmal so gut wie unmöglich herauszufinden, auf welchen Fahndungslisten man steht.

Daher kommt es sehr oft dazu, dass Menschen festgenommen werden, die sich aufgrund einer Statusklärung eigentlich für sicher hielten. Laut SNHR ist diese Willkür kein Fehler im System. Vielmehr sei das System darauf ausgelegt, Willkür zu produzieren – und diese Willkür ist für das Regime in vieler Hinsicht praktisch.

Zwangsrekrutierung in den Tod

Ein Beispiel: Das Assad-Regime hat für Wehrdienstentzieher offiziell eine Amnestie erlassen. Wehrdienstentziehern wird zugesagt, wenn sie sich freiwillig melden, erhielten sie keine Strafen. Trotzdem müssen sie allerdings ihren Wehrdienst leisten. Das Assad-Regime hofft darauf, dass sich Menschen freiwillig melden, um sie als Kanonenfutter einsetzen zu können, vor allem aber kann es sich mit der Amnestie versöhnlich gerieren.

Tatsächlich melden sich nur wenige Wehrdienstentzieher freiwillig – aus tiefem Misstrauen gegenüber dem Regime. Dass es begründet ist, zeigt der oben beschriebene Fall von Mohammed. Immer wieder werden Rückkehrer – insbesondere Wehrdienstentzieher und Deserteure – Opfer von willkürlicher Inhaftierung und von Verschwinden-Lassen. Oder sie werden ohne militärische Ausbildung an der Front verheizt. Für das Regime ist Letzteres eine besonders praktische Methode, junge Männer loszuwerden, denen Illoyalität gegenüber dem Regime unterstellt wird.

Das Regime hat kein Interesse, Rückkehrer wieder aufzunehmen

Dass das Assad-Regime Rückkehrer*innen Illoyalität unterstellt, kommt nicht von ungefähr. Immerhin hat es in den letzten acht Jahren durch unzählige Gräuel und Kriegsverbrechen fast die Hälfte der Bevölkerung vertrieben. Für das Assad-Regime ist die Lage einfacher zu kontrollieren, wenn all jene, die ihm aus verständlichen Gründen zürnen, nicht zurückkehren.

Zugleich ist die Rückkehr von Geflüchteten ein Hebel zur internationalen Rehabilitation des Regimes. Insbesondere Russland wirbt um europäische Wiederaufbauhilfen: Wenn die EU finanziell den Aufbau unterstützte, könnten die Geflüchteten alsbald zurück, so das lockende Versprechen. Auf der Oberfläche signalisiert das Regime daher international, Rückkehrer seien willkommen. 

Willkür mit System

Die Willkür gegenüber Rückkehrer*innen und anderen missliebigen Personen hat daher System: Sie verbreitet Furcht und macht zugleich das Regime international nicht so einfach angreifbar.

Egal wie viele Fälle von willkürlich Inhaftierten, Verschwundenen und Getöteten Menschenrechtsorganisationen wie das Syrische Netzwerk für Menschenrechte auch dokumentieren: Die Opfer erscheinen stets als Opfer von Zufällen. Dabei sind sie Opfer einer staatlichen Vertreibungsstrategie. Die Willkür im Assad-Regime ist kein „bug“ im System, sie ist ein „feature“.

Ausführliche Informationen zur Menschenrechtslage in Syrien finden Sie auf der Website »10 Fakten zu Syrien«: