
Es heißt, dass die Belagerung Ost-Ghoutas von 2013 bis 2018 durch das Assad-Regime eine der längsten und verheerendsten Belagerungen in der jüngeren Kriegsgeschichte war. Das stimmt, ich habe sie erlebt und überlebt. Die maximale Eskalation kam aber ab 2015 mit dem militärischen Einstieg Russlands mit seiner Luftwaffe. Bis dahin hatten wir noch Hoffnung: Hoffnung, dass sich unsere Demokratiebewegung gegen den geschwächten Assad durchsetzen würde. Hoffnung, dass die westlichen Staaten es schaffen würden genügend Druck auszuüben, um sich mit Russland zu einigen.

Nur: Der Westen war nicht interessiert an unserem Schicksal – sein Einschreiten blieb aus. Frieden interessiert die westlichen Staaten nur, wenn sie einen eigenen Nutzen daraus ziehen können. Deshalb haben sie jemanden wie Assad an der Macht gelassen. Das internationale Schweigen und die schwache Position Assads nutzte Russland für sich aus.
Was daraus folgte, war absehbar: Russland schickte als Anti-Terror-Einsatz getarnt seine Luftwaffe und sorgte für immer mehr, immer blutigere und immer größere Massaker. Russland hat Terroristen gesagt und uns Zivilist*innen gemeint: Gezielte Angriffe auf Märkte, bei denen auf einen Schlag über 100 Menschen getötet wurden, gehörten seitdem zu unserem Alltag. Es hat bunkerbrechende Raketen eingesetzt und medizinische Einrichtungen und Schulen beschossen. Auch das von mir geleitete Frauenzentrum wurde damals getroffen – eine junge Englisch-Lehrerin wurde dabei getötet. Ich erinnere mich heute noch an das Weinen ihres Säuglings, der vor Hunger nach seiner Mutter schrie.

Ob im Freien oder im Luftschutzkeller: Es gab keine sicheren Orte mehr für uns – überall lauerte der russische Tod. Menschen ohne Arme und Beine, Menschen vergraben unter Trümmern, Menschen in Notfallzentren, die verzweifelt nach ihren Familienangehörigen suchen: Diese Szenen wurden unser Alltag und haben sich in meinen Kopf eingebrannt. Mein Bruder starb bei einem Granatenangriff, mein Schwager verbrannte in seinem Laden für Malerbedarf bei einem Luftangriff. Ein hoher Preis für euer Nichtstun.
An Nord Stream 2 klebt unser Blut
Was damals in Ost-Ghouta begann, führt Russland bis heute in Idlib fort – in der Region, in die wir vor den russischen Bomben geflohen sind. Russland ist Hauptverantwortlicher für die massive Vertreibung und Flucht von uns Syrer*innen, deren Folgen auch ihr im Westen noch spürt. Vergangene Woche gab es an einem einzigen Tag 30 russische Luftangriffe auf uns.

Während ihr geschwiegen habt, als wir ermordet wurden und geflohen sind, hat Russland seine Ziele weitgehend erreicht: Es hat den Westen vorgeführt, Europa destabilisiert und seine geopolitische Rolle ausgebaut. Ihr habt all das zugelassen und steht jetzt wie wir vor den Trümmern eurer Politik. Aber der Zustand ist nicht länger tragbar. Wo sollen die Vertriebenen noch hin? Wohin sollen wir uns in Sicherheit bringen?
So sehr Russland auch Teil des Problems ist und seinen Anteil an Vertreibung, Tod und Massaker trägt, ist es auch Teil der Lösung. Der Westen ist jetzt gefordert einen politischen Transformationsprozess anzustoßen. Assad muss zurücktreten, die Vertriebenen zurückkehren können. Doch statt zu handeln, macht ihr euch zur russischen Geisel. Gas ist zwar sauberer als Kohle oder Öl, aber an Nordstream 2 klebt unser Blut.
Adopt a Revolution unterstützt die Arbeit von Huda Khaity zur Stärkung von Frauenrechten in Idlib. Helfen Sie mit Ihrer Spende mit!
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Dieser Text erschien auch am 7. Oktober 2020 als Gastbeitrag in der Tageszeitung „Die Welt“.