Souad, Change Makers (Salqin)
„Die Situation ist heute zwar besser als vor genau einem Jahr, aber sehr weit entfernt von gut. Es wäre auch ein Irrtum zu glauben, dass unser Elend erst mit den Erdbeben begonnen hat. Wir leben seit Jahren im Dauerkrisenmodus, unter Bombenhagel und mit viel zu vielen Geflüchteten auf engstem Raum. Und dann überwältigte uns die nächste Katastrophe …
Sinya, ein Stadtviertel hier in Salqin, ist bis heute komplett zerstört. Als die Erde vor einem Jahr bebte, blieb kein Stein auf dem anderen. Die Gebäude konnten den zwei aufeinanderfolgenden Beben nicht standhalten. Salqin liegt an einem Fluss. Der instabile Boden ist als Baugrund eigentlich nicht geeignet. In der Kleinstadt leben aber auch viele Geflüchtete. Mehr als 50.000 Familien flohen damals vor Assads Krieg hierher. Um ihnen ein Dach über den Kopf zu geben, wurden nahe am Fluss Siedlungen ohne Genehmigung errichtet. Aus diesen Gründen sind die Binnenvertriebenen in Idlib so überproportional von den Auswirkungen der Erdbeben betroffen. Wer die Erdbeben überlebt hat, haust jetzt in Camps. Der Wiederaufbau kommt nur schleppend voran. Die Prozesse dauern zu lange und es mangelt an finanziellen Mitteln. Auch internationale Hilfe fehlt. Die Hilfsgelder wurden stark gekürzt. Vor den Erdbeben erhielten wir bereits zu wenig und die Situation hat sich seitdem weiter verschlechtert. Wir tun deshalb, was wir können, und verteilen weiterhin Nothilfe.
Wir Syrer*innen sind mittlerweile Expert*innen im Neustart. Wir ertragen viel. Aber heute, mehr denn je, benötigen wir auch Hilfe von außen.”
Huda, Women Support & Empowerment Center (Idlib)
„Die Situation hat sich leider nicht so entwickelt wie erhofft: Ein Jahr nach den Erdbeben leben immer noch Zehntausende in Not-Camps. Nur ein winziger Bruchteil der zerstörten Häuser wurde wiederaufgebaut und viele Arbeitsplätze sind wortwörtlich unter den Trümmern begraben. Entschädigungen für das verlorene Hab und Gut gibt es nicht. Viele Menschen sind angesichts der hoffnungslosen Lage in ihre beschädigten Häuser zurückgekehrt. Das ist immer noch besser als in einem Camp zu leben, aber es ist auch sehr riskant. Die Erde bebt nach wie vor regelmäßig und die Gebäude sind so marode, dass sie jederzeit einstürzen könnten.
Wir sind am Tiefpunkt angelangt. Eigentlich bräuchte Nordsyrien einen großen Ruck, eine gemeinsame humanitäre Anstrengung der Internationalen Gemeinschaft, um wieder auf die Beine zu kommen. Stattdessen hat die UN die Hilfen reduziert und komplette Hilfsprogramme eingestampft. Dabei war die humanitäre Lage bei uns schon lange vor den Erdbeben extrem angespannt.
Durch die Angriffe und das Vorrücken des Assad-Regimes flüchteten immer wieder Binnenvertriebene hierher. Die Erdbeben haben zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Menschen geführt, die ihr Zuhause verloren haben.Es gab zuerst Hilfe von außen, aber nur kurzzeitig humanitäre Nothilfen. Diese waren sehr wichtig und sind es immer noch, obwohl sie mittlerweile kaum noch existieren. Nichts davon konnte die Lebenssituation der Menschen nachhaltig verbessern. Bisher hat es keinen Wiederaufbau gegeben, keine Wiederherstellung der Infrastruktur, und es wurden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl der Menschen, die in Zelten leben, ist so hoch wie nie zuvor, während die Unterstützung und humanitäre Hilfe so gering ist wie nie zuvor.
Das Hauptproblem ist aber ein anderes: Um endlich die Hilfe zu erhalten, die wir eigentlich brauchen, um endlich aus dieser schrecklichen Situation herauszukommen und eine Zukunftsperspektive zu haben, muss Assad weg. Es gibt keine Lösung für die humanitäre Situation hier, solange es keinen Frieden gibt.“
Safa, KLYA, (Afrin)
„Selbst ein reicher und funktionierender Staat hätte Probleme nach einer Katastrophe solchen Ausmaßes die Schäden zu beheben. Wir leben in einem andauernden Kriegszustand, ohne funktionierenden Staat. Einige wenige Organisationen bemühen sich um einen Wiederaufbau. Aber am Ende des Tages sind ihre Bemühungen nur ein paar Tropfen auf dem heißen Stein. Ein echter Wiederaufbau und die systematische Instandsetzung unserer Dörfer und Städte bleibt für uns leider Utopie.
Deshalb leben immer noch viele Menschen in den Camps und werden das perspektivisch auch noch sehr lange tun. Viele haben es dort nicht ausgehalten und sind zurück in ihre einsturzgefährdeten Häuser gezogen. Es gibt immer wieder kleine Erdbeben und Erdstöße. Viele Menschen haben deswegen neben ihren Häusern Zelte aufgestellt, in die sie dann flüchten.
Im Winter sind die Bedingungen in den Camps lebensfeindlich. Das haben wir nach den Erdbeben am eigenen Leib erfahren müssen. Die dünnen Zeltwände halten die Kälte nicht ab, es fehlt Holz zum Heizen. Selbst unter vielen Schichten Kleidung ist man ständig durchgefroren. Viele sind erschöpft und werden krank. Deshalb kommt es im Winter in den Camps auch immer wieder zu Todesfällen.
Wir befinden uns in einer erdbebengefährdeten Region, jedoch fehlt eine langfristige Strategie für den Umgang mit diesem Risiko. Jederzeit könnten wir hier wieder auf der Straße stehen, ohne ein Dach über dem Kopf und erneut mit Tausenden von Toten konfrontiert sein. Das nächste Mal wird es noch verheerender, da die Bausubstanz Zehntausender Gebäude marode ist und es offenbar keine Pläne für eine Instandsetzung gibt.
Es sieht für uns also nicht sonderlich gut aus. Aber in Afrin haben uns die Erdbeben auch eine Chance eröffnet: Wir waren jahrelang isoliert – sowohl von internationaler Hilfe, von anderen umliegenden Regionen und der Zivilgesellschaft, weil niemand hier vor Ort arbeiten wollte. Das hat sich geändert. Durch die neue Präsenz von NGOs und Zivilgesellschaft mischen sich auch die von der Türkei finanzierten Milizen weniger in zivile Belange ein, die Repressionen haben abgenommen. Wir haben nun die Chance, hier vor Ort etwas aufzubauen. Und persönlich denke ich, dass Afrin großes Potential hat, weil hier unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammenleben – Kurd*innen und Vertriebene aus allen Landesteilen Syriens. In vielfältigen Gesellschaften entstehen oft innovative und fortschrittliche Ideen. Wir müssen nur in Solidarität und Zusammenarbeit zueinander finden.“
Anas, Hooz-Zentrum (Azaz/al-Bab)
„Das Trauma durch die Erdbeben sitzt tief. In den letzten Wochen gab es immer wieder kleinere Beben und Erdstöße – das löst sofort Panik aus. Wir brauchen alle dringend eine Pause von der Todesangst, die uns permanent begleitet.
Trotz der schweren psychischen und physischen Schäden, die sie hinterlassen haben, hatten die Erdbeben aber auch etwas Gutes: die Region hier und insbesondere Afrin sind so überhaupt erst wieder auf die Landkarte und ins Bewusstsein der Menschen gerückt. Wir haben das Gefühl, dass das Interesse an Syrien nach den Erdbeben wieder zugenommen hat. Nicht nur politisch, sondern auch in Bezug auf internationale Hilfe.
Der tatsächliche Bedarf in der Region wird natürlich nicht gedeckt. Aber es gibt mittlerweile ein breiteres Verständnis davon, was humanitäre Hilfe alles umfassen sollte. Beispielsweise gibt es mittlerweile ein paar Initiativen und Organisationen, die psychosozialen Support anbieten oder sich im kulturellen Bereich engagieren. Das Angebot ist zwar noch sehr begrenzt, aber zuvor gab es überhaupt nichts Vergleichbares, daher stellt es einen kleinen, wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar.
Dennoch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Existenzängste der Menschen hier weiterbestehen. Die Preise explodieren, während immer mehr Menschen in extreme Armut abrutschen, gleichzeitig werden UN-Hilfen eingestellt. Die Lebens- und Überlebenssituation der Menschen in Nordwestsyrien ist von zwei Faktoren abhängig: Wird die Weltgemeinschaft weiterhin sicherstellen, dass die Region über den Grenzübergang Bab Al-Hawa einen unabhängigen Zugang behält? Und inwiefern ist sie in der Lage, dieser Region alternative Formen der Hilfe anzubieten? Ich meine damit nicht kurzfristige wie Lebensmittelpakete, sondern nachhaltige Unterstützung im Bereich Bildung, Arbeit, Infrastruktur und Gesundheitssystem. Nordwestsyrien hat einen erschreckend hohen Bedarf an wirtschaftlicher Unterstützung und an Hilfe beim Wiederaufbau. Bisher konnten nur ein paar wenige Häuser notdürftig repariert werden. Ein tatsächlicher Wiederaufbau, der den erforderlichen Umfang und die notwendige Systematik für solche Zerstörungsgrade, insbesondere in Bezug auf die Infrastruktur, erfordert, liegt noch in weiter Ferne.
Es ist offensichtlich, dass es so nicht weitergehen kann. Aber wann und in welcher Form es hier eine Veränderung gibt, wer dabei gewinnt, wer verliert, das ist derzeit völlig unklar.“
Ob Nothilfe, Wiederaufbau oder psychosozialer Support: Unsere Partner*innen helfen seit dem ersten Tag und versuchen die Not zu lindern. Bitte unterstützen Sie diese wichtige Arbeit!