Um ca. 6:45 Uhr Ortszeit am 4. April 2017 hörten die Anwohner der kleinen Stadt Khan Sheikhoun die Geräusche eines Kampfflugzeugs, das über ihren Köpfen kreiste. Wenige Momente später sah ein Zeuge, wie eine Bombe abgeworfen wurde. Doch nach ihrem dumpfen Aufprall hörte er: nichts. Kein Donnern, keine Explosion, obwohl sich an der Einschlagstelle Rauch und eine Staubwolke auftürmten. Ein paar Minuten später erschütterten weitere Bomben die Kleinstadt wie gewohnt, gleich einem Erdbeben.
Nach Angriffen müssen Helfer*innen meist gebrochene Arme und Beine sowie blutende Kopfwunden versorgen. Doch das Bild, das sich ihnen am ersten Einschlagsort bot, war auf eine andere Art schockierend: Menschen, die äußerlich unverletzt schienen, brachen plötzlich zusammen und rangen nach Luft. Auf dem Boden krümmten sich Körper jeden Alters. Als erste Hilfe wurden Feuerwehrwagen herangebracht, mit Wasserschläuchen versuchte man, von den Opfern abzuwaschen, was ihnen das Atmen so schwer machte.
In Khan Sheikhoun ereignete sich vor sieben Jahren einer der tödlichsten Giftgasangriffe des Syrienkriegs. Mehr als 92 Menschen, darunter 30 Kinder, starben, während Hunderte weitere verletzt wurden. Klinische Symptome bei den Opfern deuteten auf den Einsatz einer Nervengiftverbindung hin. Die UN-Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass die syrische Luftwaffe Sarin eingesetzt hatte und somit für den Giftgasangriff in Khan Sheikhoun verantwortlich war, wie auch für ähnliche Verbrechen in Ost-Ghouta 2013 und Douma 2018.
Strafverfolgung möglich?
Bis heute warten die Opfer und Angehörige, viele davon sind mittlerweile geflohen, noch auf Gerechtigkeit. Denn es fehlt an echter juristischer Handhabe. Trotz des weit verbreiteten Verbots von chemischen Waffen wurden in den letzten zehn Jahren Tausende von Menschen, hauptsächlich in Syrien, durch ihren Einsatz getötet oder verletzt. Das Internationale Strafgericht (ICC) kann zwar Personen für den Einsatz solcher Waffen verantwortlich machen. Doch politische Spaltungen in der Organisation für das Verbot chemischer Waffen und den Vereinten Nationen sowie das Veto Russlands gegen die Verlängerung des Mandats der UN-Untersuchungsmission für chemische Waffen in Syrien haben eine Straflosigkeitslücke auf internationaler Ebene bedingt.
In mehreren europäischen Ländern, darunter Schweden, Frankreich und Deutschland, wurde Strafanzeige bei der Generalbundesanwaltschaft gestellt und Untersuchungen zum Einsatz chemischer Kriegswaffen begonnen. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das Weltrechtsprinzip gilt. Dadurch können auch Völkerrechtsstraftaten, die im Ausland geschehen sind, vor Gericht gebracht werden. Jedoch ist auch hier wieder keine internationale Strafverfolgung möglich. Um diese Lücke zu schließen, haben syrische Menschenrechtsorganisationen und internationalen Rechtsexpert*innen nun eine Initiative ins Leben gerufen. Einer von ihnen ist der Anwalt für Internationales Recht Ibrahim Olabi:
Das Weltrechtsprinzip sollte nur die Ausnahme, nicht die Regel sein. Denn für eine internationale Strafverfolgung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien brauchen wir internationale Normen. Wir kümmern uns gerade darum, mit mehreren Ländern eine Arbeitsgruppe zu bilden, um die Etablierung eines gesonderten Chemiewaffen-Tribunals zu diskutieren.
Ibrahim Olabi
Am 30. November 2023 wurde anlässlich des Gedenktages für die Opfer chemischer Kriegsführung ein öffentlicher Aufruf zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs für den Einsatz chemischer Waffen, des “Exceptional Chemical Weapons Tribunal” (ECWT), veröffentlicht. Die Einrichtung dieses Tribunals soll eine Plattform bieten, um Beweise vorzulegen, Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Durch die Schaffung dieses Tribunals sollen bestehende Straflosigkeitslücken geschlossen und die fundamentale Verbotsnorm gegen den Einsatz chemischer Waffen gestärkt werden. Ein Vorbild ist das sogenannte Ruanda-Tribunal. Es war das erste internationale Strafgericht, das Personen vor Ort wegen Völkermord verurteilte.
Aktuell sind die Initiator*innen der Initiative in Gesprächen mit mehreren Ländern, wie eine solche Struktur aufgebaut werden könnte. Und auch andere Optionen der Strafverfolgung von Chemiewaffenverbrechen werden diskutiert. Aktuell läuft eine Unterschriftenaktion für die Etablierung des Sonder-Tribunals.
Die Opfer der Chemiewaffenverbrechen kämpfen seit jeher für Gerechtigkeit. Das Tribunal hätte einen immensen Einfluss. Es würde ihnen zeigen, dass das, was sie überlebt haben, nicht in Vergessenheit gerät und das Verbrechen an ihnen nicht normalisiert wird.
Ibrahim Olabi