Verschönerungsarbeiten in Raqqa – die Wände sollen bunt werden. Die Einschusslöcher an den Hausfassen zeugen noch von dem harten Kampf gegen den IS. Mittlerweile ist der Wiederaufbau der Stadt und der Zivilgesellschaft in vollem Gang.

Raqqa: Die Wiedergeburt einer geschundenen Stadt

Raqqa war einst die Hochburg des IS. Diese Zeit prägt bis heute das Bild der Stadt im Westen, denn wer an Raqqa denkt, hat unweigerlich die Bilder der Zerstörung, Gewalt und vollverschleierter Frauen in Schwarz vor Augen. Das entspricht nicht mehr der heutigen Realität, aber die Schatten des IS wirken nach.

Verschönerungsarbeiten in Raqqa – die Wände sollen bunt werden. Die Einschusslöcher an den Hausfassen zeugen noch von dem harten Kampf gegen den IS. Mittlerweile ist der Wiederaufbau der Stadt und der Zivilgesellschaft in vollem Gang.

Wir haben mit jemandem über Raqqa gesprochen, der die Stadt so gut kennt wie seine Westentasche: Huzaifa ist 29 Jahre alt, in Raqqa geboren und aufgewachsen. Er hat seitdem erst zwei Mal die Stadt verlassen: Einmal für ein Wirtschaftsstudium in Latakia und dann, als er vor dem IS fliehen musste. Seit 2017 arbeitete er bei unserem Partner, dem PÊL Civil Waves Zentrum, die mehrere Standorte in Nordostsyrien haben. Einer wurde damals direkt im Flüchtlingslager Ain Issa eröffnet, in dem viele Menschen aus Raqqa, Deir-ez-Zor und auch Iraker*innen Zuflucht vor dem Daesh suchten. Weil es wenige Leute gab, die Erfahrung hatten oder bereit waren dort zu arbeiten, sprang Huzaifa ein und unterstützte im Camp die Geflüchteten. Nach der Vertreibung des IS konnte er 2019 nach Raqqa zurückkehren und arbeitet jetzt direkt in seiner Heimatstadt für PÊL.


Die Arbeit des zivilen Zentrums in Raqqa startete 2019 und anders als es von einem zivilen Zentrum zu erwarten wäre, lag hier der Fokus zunächst auf der Landwirtschaft. Denn die Stadt war gerade erst vom IS befreit, die Menschen aber nach wie vor noch im permanenten Ausnahmezustand. Viele vorab geflohene Menschen kehrten gerade erst zurück in eine Stadt, die zu mehr als 75 Prozent zerstört war. Die Angst, das Trauma und Herausforderungen waren zu frisch, als dass jemand überhaupt etwas von Zivilgesellschaft hätte wissen wollen. „Für uns war und ist es bis heute wichtig da zu helfen, wo es nötig ist und die Menschen da abzuholen, wo sie stehen. Und da stand an allererster Stelle den Lebensunterhalt zu sichern“, erklärt uns Huzaifa.

Kritische Wiederaufbauhilfe

Gleichzeitig wollten die Menschen ihre Stadt wiederaufbauen. Auch hier halfen die Aktivist*innen von PÊL, denn ein gemeinsames Ziel bedeutet nicht automatisch, dass alle an einem Strang ziehen. „Wir haben Vertrauen aufgebaut und dann begonnen eine Mischung aus zivilgesellschaftlicher Arbeit und kritischer Wiederaufbau-Hilfe zu leisten. Dafür haben wir immer wieder im Dienstleistungssektor interveniert. Das war für uns aber letztendlich nur Mittel zum Zweck. Es ging uns nicht darum, mehr Dienstleistungen bereitzustellen, das konnten wir gar nicht. Aber wir haben versucht die Art und Weise wie Dienstleistungen verteilt wurden, zu verändern. Wir wollten den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern und Konflikte reduzieren“, so Huzaifa.

Das Stadtbild ist noch geprägt von Schuttbergen. Raqqa war zu 75 Prozent zerstört – der Wiederaufbau dauert, aber geht voran.

Konflikte gab es genug, weil es beim Wiederaufbau nicht gleichmäßig voranging. Beispielsweise hatten die lokalen Autoritäten zwar im gesamten Stadtviertel Hai Al-Ta’meer die Lichtversorgung wiederhergestellt, aber mit der Instandsetzung unmittelbar an der Bezirksgrenze gestoppt. Das Ergebnis: Eine Straße, die von dem einen Viertel ins andere führte wurde nur zu 90 Prozent mit Licht versorgt. Viele Anwohnende blieben deshalb im Dunkeln sitzen – für die Menschen kaum verständlich. Es folgten harte Auseinandersetzungen zwischen den Betroffenen und dem Stadtrat, dass sich dessen Angestellte sogar irgendwann weigerten auch nur einen Fuß in das Stadtviertel zu setzen.

PÊL brachte Licht ins Dunkle

PÊL hatte zwischenzeitlich ein Jugendforum gegründet als Versuch eine Brücke zwischen den Jugendlichen und politischen Entscheidungsträger*innen zu bauen. Die Jugendlichen bekamen so Raum über ihre Probleme zu reden und die Politiker*innen konnten direkt darauf reagieren. Ein Mitglied der Jugendgruppe kam genau aus dem betroffenen Viertel ohne Licht. In einer von PEL organisierten Dialog-Runde zwischen dem Stadtrat und den Bewohner*innen des Viertels, bekam der Jugendliche Raum die Probleme vorzutragen, darunter der massive Zulauf von Drogensüchtigen ins Viertel, die im Schutz der Dunkelheit konsumieren oder dass insbesondere die Frauen sich nachts unsicher fühlen sich nach sechs Uhr abends nicht mehr vor die Tür trauen. „Seit fünf Monaten geht das so und ihr [der Stadtrat] handelt einfach nicht!“

Die Aussprache war wichtig, denn dabei kam heraus, dass der Stadtrat nicht einfach unwillig war oder bestimmte Menschen bevorteilte, sondern tatsächlich keinerlei Ressourcen mehr zur Verfügung standen. „Wir von PÊL haben dann ausgeholfen und das Licht angebracht und wieder instandgesetzt“, so Huzaifa. „Durch das Meeting konnten wir das gegenseitige Misstrauen abbauen. Die Mitarbeitenden des Stadtrats sind wieder in das Viertel gegangen und das Problem war gelöst.“

Es kann so simPÊL sein – ist es aber nicht (immer)

Ähnlich lief es bei der Strom-Verteilung in Raqqa. Das Strom-Komitee der Stadt hatte zunächst nur neue Stromleitungen am Stadtrand verlegt. Im Zentrum hingegen waren die Menschen immer noch auf Generatoren angewiesen. „Das hat natürlich zu sehr viel Unmut und Unzufriedenheit geführt. Wir von PEL hatten hier zwar selbst keine Kapazitäten das Stromnetz aufzubauen, aber wir haben das Komitee und die Stadtgesellschaft zusammengebracht, weil es wichtig ist sich gegenseitig zuzuhören und die Hintergründe zu verstehen. Es ist manchmal echt so simpel: Es gibt zu wenig Geld und finanzielle Unterstützung für diese Stadt und Region und genau das führt leider zu vielen Problemen!“

Deshalb hat PÊL neben dem Jugendforum auch das sogenannte Staatsbürger*innen-Forum etabliert: Ziel ist es einen Raum zu schaffen, um über die Probleme im Dienstleistungssektor der Stadt zu diskutieren. „Uns ist schnell klargeworden, dass wir über diesen Weg viele Streitfragen klären können, bevor sie schwelen und zu großen Konflikten heranwachsen.“ Einfach ist das aber nicht immer, denn in Raqqa ist es schwieriger aktiv Diskussionen anzustoßen. „In anderen Orten, beispielsweise Qamishli gibt es ein Bildungsbürgertum, kulturelles Leben und Offenheit sich mit kontroversen Fragen auseinanderzusetzten. Hier ist das anders – wir müssen das erst aufbauen. Die Gesellschaft hier hat sechs Jahre lang unter dem IS gelitten! Und auch davor war die gesellschaftliche Zusammensetzung so, dass es keine starke Zivilgesellschaft gab, die Widerstand hätte leisten können,“ erzählt Huzaifa.

Die Arbeit von PÊL unterscheidet sich entsprechend von den anderen Zentren in der Region. „Es ist schwer Dialoge zu führen, die wirklich in die Tiefe gehen. Das liegt auch daran, dass die grundsätzlichen Bedürfnisse der Menschen noch lange nicht gestillt sind und Menschen oft noch ums Überleben kämpfen. Du bekommst sie dann eher mit einer Mortadella-Packung oder einem 150-USD-Gutschein, als sie für eine Dialog-Runde zu gewinnen”

Die Angst vorm IS ist noch präsent – und sichtbar

PÊL nimmt aber nicht nur die Stadtgesellschaft als Ganzes oder Jugendliche im Besonderen in den Blick. Die Aktivist*innen haben auch ein Frauen-Forum gegründet. Hier können Frauen individuelle und kollektive psychologische Betreuung in Anspruch nehmen. Zudem erhalten sie politische und zivilgesellschaftliche Bildung, beispielsweise zum Thema staatsbürgerliche Rechte oder Transparenz. „Das haben die Frauen aktiv eingefordert. Denn viele hatten noch nie davon gehört, dass sie Rechte haben. Und weil die meisten internationalen und lokalen Organisationen, sich nur um Fragen der Lebenssicherung kümmern, bleiben diese Fragen unberührt. Dabei ist genau diese Arbeit gerade in Raqqa total wichtig“, betont Huzaifa. 

„Als ich das erste Mal nach der Vertreibung des IS zurück nach Raqqa kam, war es ein Schock für mich“, erinnert sich der Aktivist. „Der IS war zwar weg, aber die Frauen liefen weiterhin in schwarzer Vollverschleierung rum. Dafür gab es viele Gründe: religiöse Überzeugung oder kulturelle Identifikation. Aber die meisten trauten sich einfach nicht, die ihnen von den Islamisten aufgezwungene Kleiderordnung abzulegen – die Angst vor der Rückkehr des IS und Schläferzellen war einfach zu groß. Viele Frauen, die nun nach Raqqa zurückkehren, bringen aber auch einen wahnsinnigen Mut mit und versuchen die anderen Frauen zu motivieren.”

Vollverschleierte Frauen gibt es in Raqqa nach wie vor, primär liegt das an der Angst vorm IS, die sich manifestiert hat. Trotzdem kämpfen sich Frauen langsam aber sicher (zurück) in die Selbstbestimmung.

Der Weg ist weit, aber gespickt mit Erfolgen

Gleichzeitig ist Raqqa gesellschaftlich noch sehr geprägt von Ablehnung der Frauenarbeit – sei es in der Lokalpolitik oder in den zivilen Organisationen. Deshalb braucht es noch mehr Vorbilder und Frauen, die gemeinsam an einem Strang ziehen. „Sie brauchen konkrete Ziele, auf die sie gemeinsam hinarbeiten können.” Mittlerweile gibt es sogar bei der Selbstverwaltung Strukturen für Frauen. Diese werden laut Huzaifas Einschätzung zwar von Dreiviertel der Gesellschaft akzeptiert, aber längst nicht von allen. Der Weg ist noch weit.

Trotzdem können die Aktivist*innen von PÊL immer wieder Erfolge verbuchen. „Mit den Jugendgruppen erschaffen wir kleine gesellschaftliche Utopien und zwar alle gemeinsam: Kurd*innen und Araber*innen, junge Männer und Frauen. Die meisten sind aber tatsächlich weiblich – ein toller Erfolg. Die Gruppen übernehmen Verantwortung bei Problemlösungen in ihrer Stadt. Eine der Frauen hat vor kurzem sogar einen Kindergarten aufgemacht. Das sind alles Erfolgsgeschichten, die zeigen, dass wir nur diese Räume schaffen müssen und die Frauen sie dann ausfüllen werden.”


In Raqqa ist die Frucht ihrer Arbeit am sichtbarsten, aber der Einsatz der Aktivist*innen ist in allen Zentren von PÊL mehr als wichtig.

Adopt a Revolution unterstützt das PÊL Civil Waves Zentrum aus Spendengeldern. Bitte helfen Sie mit einer Spende, unsere Unterstützung auch längerfristig zu sichern!