Vertreibung aus Ost-Ghouta nach Idlib. Foto: Tim Alsiofi

Drei Schicksale aus Ost-Ghouta

Vor drei Jahren endete die Offensive des Assad-Regimes auf Ost-Ghouta mit der Eroberung der einstigen Hochburg der Opposition. Zehntausende wurden vertrieben – darunter sämtliche Partner*innen von Adopt a Revolution in der Region. Was ist aus ihnen geworden?

Vertreibung aus Ost-Ghouta nach Idlib. Foto: Tim Alsiofi

Drei Jahre sind vergangen, seit das Assad-Regime Ost-Ghouta eroberte. Die von der russischen Armee unterstützte Offensive auf die jahrelang vom Assad-Regime belagerte Region tötete tausende Zivilist*innen und vertrieb am Ende Zehntausende in den Norden.

Die nur 20 Kilometer östlich von Damaskus gelegene Vorstadt-Region war lange ein Zentrum der Regime-Gegner*innen. Es dominierten dort zwar bald islamische Milizen, doch es gab es in der Region zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen mit emanzipatorischem und feministischem Selbstverständnis.

Adopt a Revolution hat dort viele solcher Projekte unterstützt und dabei viele Menschen kennengelernt, die sich in Ost-Ghouta für demokratischere Verhältnisse und Menschenrechte engagierten. Alle wurden im Zuge der Militäroffensive Anfang 2018 im Rahmen der sogenannten “Evakuierung” vertrieben. Denn unter Assads Herrschaft drohen zivilen oppositionellen Aktivist*innen Haft, Folter und Hinrichtung.

Was ist aus diesen Menschen geworden, drei Jahre nach der Offensive? Hier folgen drei Beispiele.

Huda, Leiterin des Frauenzentrums

Im Frauenzentrum Nisaa al-Ghouta in der Stadt Douma lag der Fokus darauf, die Marginalisiertesten aller Frauen zu unterstützen. Das betraf meist wirtschaftlich benachteiligte Frauen, die ihren Ehemann verloren oder ihn verlassen haben. Im Frauenzentrum bekamen sie z.B. Rechtsberatung, damit sie ihre Rechte einfordern können, z.B. Erbrecht, Scheidungsrecht, Alimente, Sorgerecht etc.

Gleich zu Beginn der Offensive wurde das Zentrum von einer Bombe getroffen und vier Frauen starben, darunter die Lehrerin Wahida. Huda ging wie viele andere in die Bunker unter der Stadt.

Wir versuchen in den Kellern ein paar Aktivitäten für die Kinder zu organisieren und auch ein paar Handarbeitskurse für die Frauen – die Menschen müssen mit irgendwas beschäftigt werden, um sich abzulenken.

Am 4. April 2018 folgte ein Giftgasangriff auf Douma mit vielen Toten. Kurz vor dem Ende der Offensive kam auch Hudas Bruder ums Leben. Noch während der wochenlangen Belagerung & Bombardierung schrieb sie uns:

Es gibt keine Evakuierungskorridore oder offenen Wege, wie Russland behauptet. Wir können außerdem auf keinen Fall in die Gebiete des Regimes zurückkehren, selbst wenn der Weg dorthin geöffnet wird. Dort erwartet uns der Tod. Das Regime wird sich an den Menschen aus der Ost-Ghouta für ihren jahrelangen Widerstand rächen.

Schließlich wurde ausgehandelt, dass Menschen die Region verlassen konnten. Mit Bussen wurden sie in den Norden nach Idlib ins HTS Gebiet gefahren (HTS: Hayat Tahrir al Sham, islamistische Rebellengruppe mit Verbindungen zu al-Qaida). In Idlib brauchte sie einige Monate, um das Geschehene zu verarbeiten. Dann fing sie an, ein neues Frauenzentrum aufzubauen, sowohl mit anderen Vertriebenen als auch mit Frauen von vor Ort. Sie kümmert sich seitdem weiter um die Marginalisiertesten in Idlib-Stadt.

Die Selbsthilfe läuft – braucht aber dringend finanzielle Unterstützung. Helfen Sie mit!

Mit der Corona-Pandemie hat Huda gemeinsam mit anderen Frauen ein großes Projekt in informellen Lagern für Binnenflüchtinge gestartet. Sie wollen den Geflüchteten in den Lagern möglichst viel an Hygiene ermöglichen und Ansteckungen vermeiden. So verteilen sie Hygienekits, aber auch Verhütungsmittel und Periodenprodukte.

Warum ist Huda in Syrien geblieben? Vor dem Hintergrund der besonders prekären Situation in Idlib glaubt sie, dort am meisten für die Menschen tun zu können. Sie sagt zwar, ein weiteres Ghouta-Szenario werde sie nicht schaffen. Aber solange der Waffenstillstand halbwegs hält, bleibt sie vor Ort und macht weiter.

Die Stadt Erbin, Anfang 2018

Tod im Exil

Als einer der Koordinatoren der Schulen in Erbin und des zivilen Zentrums hat E. seit 2013 mit uns zusammen gearbeitet. Er war ein zurückhaltender, zuvorkommender Mensch, der lieber nicht im Vordergrund stand. Als stiller Koordinator war er das Rückgrat einer Gruppe von Aktivist*innen, die unter anderem gewaltfreie Bildung für hunderte Kinder in bombensicheren Kellerräumen organisierte. Wir würden hier gerne ein Bild von ihm zeigen, wie er mit seinem Kind im Arm während der Bombardierungen im März 2018 kurz ans Tageslicht ging. Aber weil wir um die Sicherheit seiner in Ost-Ghouta lebenden Angehörigen fürchten, haben wir es wieder gelöscht.

Nach der Rückeroberung von Ost-Ghouta wurde E. wie Zehntausende andere mit Bussen nach Idlib in HTS-Gebiet transportiert. Mit der einst aus al-Qaida hervorgegangen Miliz HTS hatte es schon früher Probleme gegeben, weil es aus seiner zivilen Gruppe öffentliche Kritik an der Herrschaft der bewaffneten islamistischen Milizen in Ost-Ghouta gab. Im März 2017 verübte ein Kämpfer, der der Al-Nusra-Front, dem Vorläufer von HTS nahe stand, einen Mordanschlag auf seinen Kollegen Abdulsattar im zivilen Zentrum Erbin. Daher hat E. Idlib schnellstmöglich verlassen und wich in ein Gebiet aus, dass von einer der FSA (FSA: Freie Syrische Armee, Oberbegriff für bewaffnete Aufständische in Syrien, die lange weniger radikal waren als explizit islamistische Milizen) zugerechneten Miliz kontrolliert wurde.

Studie zum zivilen Widerstand gegen HTS

Aber bald nahm HTS auch dieses Gebiet ein. E. entschloss sich, den Weg nach Europa anzutreten, und ging in die Türkei. Unsere Versuche, ihn legal nach Europa in Sicherheit zu bringen, scheiterten allerdings an den hohen Hürden der Behörden hierzulande. Obwohl er in einem zivilgesellschaftlichen Projekt gearbeitet hatte, das das deutsche Auswärtige Amt mitfinanzierte hatte, bekam er kein Visum. Diese Zeit war für E. und auch für uns geprägt von großer Enttäuschung und Wut über die deutsche Abschottungspolitik.

Schließlich floh E. nach Ägypten. Die türkischen Gebiete waren ihm zu unsicher und Ägypten ist eines der wenigen Länder, in das man mit syrischem Pass relativ problemlos einreisen kann. Um finanziell über die Runden zu kommen, begann er, auf einer Baustelle zu arbeiten, wo er letztes Jahr tödlich verunglückte.

Wir sind bis heute bestürzt über seinen Tod und trauern mit seinen Angehörigen und Freund*innen. Warum musste er, der die Belagerung Ost-Ghoutas, die Bombardierungen, die Vertreibung und die drohende Gefahr durch HTS durchgemacht hatte, bei einem Unfall auf einer Baustelle in Ägypten sterben? Wie wäre sein Leben verlaufen, hätten die deutschen Behörden ihm eine legale Einreise ermöglicht?

Mit einem Nothilfe-Fonds unterstützen wir syrische Aktivist*innen auf der Flucht. Helfen Sie mit, tragen Sie mit Ihrer Spende dazu bei!

Eman, die Bildungsaktivistin

Eman studierte Englisch in Damaskus, nahm an den Studierenden-Protesten teil und ließ sich später durch Tunnel nach Ost-Ghouta schmuggeln, voller Hoffnung auf eine demokratischere Gesellschaft in der vom Assad-Regime befreiten Region.

Eman organisierte dort die Bildungsinitiative „Lamset Amal“ (arabisch „Eine Spur von Hoffnung“), die Kindern Wissen über die Gefahren von Blindgängern, Bombensplittern oder kontaminiertem Wasser beibrachte, Kinderbetreuung organisierte und vieles mehr.

Als die Offensive auf Ost-Ghouta begann, beschrieb Eman die Lebensumstände in einem Video, das es sogar in die Tagesschau schaffte. Zur gleichen Zeit befand sich eine AfD-Delegation in Damaskus, um aufzuzeigen, dass Syrien ein sicheres Land sei, in das man abschieben könne. Eman nahm eine Videobotschaft auf und lud die Delegation nach Ost-Ghouta ein – das Video ging viral. Doch die erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit machte für sie vor Ort kaum einen Unterschied. Auch sie stieg nach Wochen der Hölle mit ihrem Mann Nader und ihrem eineinhalbjährigen Kind in einen Bus nach Idlib.

Im konservativen, von fundamentalistischen Milizen geprägten Idlib sah die Familie keine Perspektive für sich. Sie entschieden, die Flucht nach Europa anzutreten und versuchten mehrmals in die Türkei zu gelangen. Denn wer von der türkischen Armee gefasst wird, wird einfach wieder über die Grenze zurückgezwungen – obwohl dies das internationale Flüchtlingsrecht bricht. Eman und ihre Familie mussten das am eigenen Leib erleben. Nach einigen Monaten schafften sie es jedoch endlich in die Türkei und lebten dort unter sehr prekären Bedingungen.

Im Juli 2018 reisten Christin und Sofie aus unserem Team in die Türkei und konnten Eman zum ersten Mal persönlich treffen.

Kurz vor Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 bekam Eman endlich ein Visum für Frankreich. Eine riesige Erleichterung, nachdem wir schon alles mögliche versucht hatten. Sie kündigten die Wohnung und den Job – doch dann kam die Pandemie und Frankreich stoppte die humanitäre Aufnahmen. Ein herber Rückschlag. Sie suchten eine neue Wohnung und versuchten sich in dieser Warteposition zu arrangieren. Unklar war, wie lang dieses Warten dauern würde. Eine weitere aufreibende Phase, in der wir so gut wie möglich versuchten, zu unterstützen.

Die Phase dauerte ein Jahr an. Mit viel Freude können wir heute schreiben, dass Eman, Nader und ihre Tochter am 20. April 2021 in Frankreich gelandet sind und eine sichere Unterkunft haben. Eman möchte bald wieder an die Universität und hofft, nach diesen vielen Jahren endlich noch ein Studium abschließen zu können.

Unsere Solidarität endet nicht, wenn ein Projekt zu Ende geht: Wir wollen aktuellen und ehemaligen Partner*innen beistehen, auch und gerade wenn sie fliehen müssen. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung: Bitte spenden Sie für unseren Nothilfsfonds für Aktivist*innen auf der Flucht!