Sie haben die Wahl!

Welche Themen wären Syrer*innen wichtig, wenn sie bei den kommenden Bundestagswahlen wählen dürften? Wir haben nachgefragt.

Die meisten Syrer*innen, die vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland flohen, haben bei den Bundestagswahlen im September noch kein Wahlrecht. Nur wenige von ihnen haben die hohen Hürden der Einbürgerung bereits genommen. Aber 2025 könnten unter den Erstwähler*innen Hunderttausende sein, die 2013, 2014 und vor allem 2015 als Geflüchtete nach Deutschland kamen. Nur: Werden sie wählen – und wenn ja, wen?

Dieser Beitrag erschien als Schwerpunkt unseres Jahresberichts 2020

Viele Syrer*innen, aber auch Geflüchtete aus vielen anderen Herkunftsländern, kennen Wahlen als Form der Unterwerfung. In Syrien wird bei Wahlen nicht gewählt, sondern dem Diktator gehuldigt. Einen Mangel an Erfahrung gibt es aber nicht nur seitens der Geflüchteten, sondern auch seitens der deutschen Politik: Die Parteien haben Geflüchtete und Migrant*innen jahrzehntelang als „Ausländer” und folglich nicht als potentielle Wähler*innen betrachtet.

Bis zur Bundestagswahl 2025 wird sich zeigen, ob sich das geändert hat. Nur halten wir es für keine gute Idee, noch vier Jahre nur abzuwarten. Wir glauben, dass politische Integration wichtig ist – und unterstützen syrische Aktivist*innen, damit ihre Stimmen hierzulande hörbar werden. Zudem wird sich schon bei den Wahlen im Herbst zeigen, ob Deutschland und Europa weiter auf Abschottung und Ausgrenzung setzen. Oder ob verfolgte Menschen Aufnahme und marginalisierte Stimmen Gehör finden. Für letzteres setzen wir uns mit unserer Arbeit ein. Unterstützen Sie uns dabei!

Wählt für uns mit!

In Deutschland leben gut 800.000 syrische Geflüchtete – das entspricht rund einem Prozent der Bevölkerung. Wir haben in Deutschland lebende Syrer*innen gefragt, welche Themen für sie wahlentscheidend wären – und unsere Partner*innen in Syrien, was sie sich von der künftigen Bundesregierung wünschen würden. Unsere Bitte an Sie: Wählen sie mit für Menschen, die nicht wählen dürfen!

RECHT AUF FAMILIE

»Jeder Mensch sollte das Recht haben seine Familie nachzuholen – unabhängig von seinem Status«

Mohamed Jawish hat sich in Ost-Ghouta als ziviler Aktivist engagiert. Heute lebt er in Deutschland.

Mohamed Jawish wartet seit Langem darauf, dass er endlich seine Frau und seine dreijährige Tochter zu sich in Sicherheit bringen kann. Sie sitzen immer noch in Syrien fest, obwohl er als anerkannter Flüchtling ein Recht auf Familiennachzug hat. In seinem Fall verhindert die Trägheit der Bürokratie den Familiennachzug. Für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz haben die Gesetzgeber*innen das Recht auf Familiennachzug sogar ganz abgeschafft. »Meine Frau lebt seit fast drei Jahren mit unserer Tochter von mir getrennt. Ich versuche mittlerweile zu vermeiden, mir Bilder von meiner Tochter anzuschauen, weil mich das zu sehr aufwühlt. Ich hoffe sehr, dass die künftige Bundesregierung diese Gesetze ändert, damit das, was ich ertragen muss, kein anderer Vater oder keine andere Mutter mehr durchleben muss.«

STRAFLOSIGKEIT BEENDEN

»Gerechtigkeit ist unteilbar«

Fadwa Mahmoud tritt dafür ein, dass den zehntausenden Opfern von Folter und Verschwindenlassen Gerechtigkeit widerfährt.

Dass sich in Koblenz weltweit erstmals syrische Folterschergen vor Gericht verantworten müssen, ist für Fadwa Mahmoud »ein erster Schritt auf einem langen Weg zur Gerechtigkeit«. Ihr Wunsch: »Dass die deutsche Regierung dafür sorgt, dass der Justiz mehr Ressourcen bereitstehen, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden.« Auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips können Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann in Deutschland geahndet werden, wenn sie in Syrien oder anderswo begangen wurden. »Ich hoffe, dass jede Frau, die an Freiheit und Gerechtigkeit glaubt und die Möglichkeit hat, an den Wahlen teilzunehmen, ihre Stimme einer Partei gibt, die die Menschenrechte verteidigt. Gerechtigkeit ist unteilbar.«

KEINE ABSCHIEBUNGEN IN FOLTERSTAATEN

»Wer nach Syrien abschiebt, verharmlost schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit«

Der Softwareentwickler Samer al Hakim engagiert sich in der Kampagne #SyriaNotSafe.
Die Kampagne #SyriaNotSafe setzt sich gegen Abschiebungen nach Syrien ein: syria-not-safe.org

»Ich würde niemals eine Partei wählen, deren Politiker*innen Abschiebungen nach Syrien auch nur in Erwägung ziehen – selbst wenn es um Straftäter oder Gefährder geht. Allein das populistische Gerede, dass man „kriminelle Syrer” abschieben müsse, heizt Rassismus an. Jede Kooperation mit dem Assad-Regime wäre Hohn gegenüber den im deutschen Grundgesetz festgeschriebenen Werten. Leider sehen wir bereits bei den Abschiebungen nach Afghanistan, wie skrupellos die Bundes- und Landesregierungen in Kriegs- und Folterstaaten abschieben.«

KEINE UNTERSTÜTZUNG MEHR FÜR ERDOGAN

»Es waren deutsche Panzer, mit denen die Türkei 2018 in Afrin einmarschiert ist«

Die Regisseurin Guevara Namer stammt aus Qamishli. 2021 gestaltete Sie das Videoprojekt „Zehn Jahre / Zehn Bilder“ zum 10. Jahrestag der syrischen Revolution.

»Die Bundesregierung kann Erdogans aggressive Politik gegenüber Kurd*innen nicht mehr akzeptieren – und muss deshalb Waffenexporte in die Türkei beenden. Gleichzeitig darf sie nicht mehr zulassen, dass die EU Erdogan als Türsteher benutzt, um Flüchtlinge fernhalten. Mit dem EU-Türkei-Deal zur Flüchtlingsabwehr trägt Deutschland zur Finanzierung der Mauer an der syrisch-türkischen Grenze bei – und ist damit mitverantwortlich dafür, dass Millionen Menschen in Idlib unter katastrophalen Bedingungen in Lagern festsitzen, gefangen zwischen den Bomben des Assad-Regimes und der hermetisch abgeriegelten Grenze.«

IMPFSTOFF FÜR ALLE ÜBERALL

»Wir brauchen dringend Impfstoff. Hier leben zwei Millionen Menschen in Massenunterkünften, und die Fallzahlen steigen«

Der Journalist Akram Al-Ahmad berichtet seit Jahren über den Zustand der medizinischen Versorgung in Nordwestsyrien.

»Das Bisschen medizinische Infrastruktur, das es hier gibt, ist auf die Versorgung von Kriegsopfern ausgelegt, nicht auf Infektionskrankheiten«, sagt Akram Al-Ahmad. Selbst das medizinische Personal ist zum Teil noch ungeimpft. »53.000 Corona-Impfdosen sind für die Region hier mit ihren rund vier Millionen Menschen vorgesehen, das ist lächerlich.« Akram warnt, dass der Geiz der westlichen Staaten in Bezug auf Impfstoff und Patente viele Menschenleben kosten und auch dafür sorgen wird, dass die Pandemie weltweit weitergeht. Dass die Bundesregierung den US-Vorstoß zur befristeten Patentfreigabe abwies, ist aus dieser Sicht empörend. »Wir wurden schon in der Vergangenheit im Stich gelassen – da hieß es, man könne nichts gegen Assads Bomben tun. Diesmal aber kann Deutschland etwas tun. Hebt die Patente für den Impfstoff auf und lasst uns Leben retten!«

Die Pandemie ist lange nicht vorbei
In Deutschland sind die Fallzahlen derzeit niedrig, die Impfungen kommen voran. In vielen ärmeren Ländern und Konfliktgebieten wie Syrien ist das Gegenteil der Fall: Hier könnte das Schlimmste noch bevorstehen. Dank großzügiger Spenden konnten wir 2020 unsere Partnerinitiativen in Nordsyrien dabei unterstützen, selbstorganisierte Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen. Sie haben in Flüchtlingslagern tausende Pakete mit Hygieneprodukten verteilt und die Menschen über die Verbreitungswege des Virus aufgeklärt. Wir hoffen, dass wir diese Arbeit auch in 2021 mit Ihrer Hilfe weiter unterstützen können.

BLOCKADEPOLITIK UMGEHEN

»Lasst nicht zu, dass wir ausgehungert werden!«

Unsere langjährige Partnerin Souad Al-Aswad organisiert humanitäre Hilfe und Bildungsangebote für Frauen und Kinder in Nordwestsyrien

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»Die Grenzübergänge zur Türkei sind für uns eine Lebensader«, sagt unsere Partnerin Souad. Hunderttausende Binnenf üchtlinge in der Region sind davon abhängig, dass Hilfsgüter über die türkisch-syrische Grenze kommen. Das steht aktuell in Frage: In diesen Wochen entscheidet der UN-Sicherheitsrat, ob die Vereinten Nationen weiterhin humanitäre Hilfe über die syrische Grenze nach Nordsyrien liefern dürfen. Der humanitäre Zugang wurde auf Druck Russlands bereits stark eingeschränkt. Jetzt droht, dass Putin im Namen seines Schützlings Assad die Verlängerung der entsprechenden UN-Resolution durch ein Veto blockiert. Das Assad-Regime will, dass alle UNHilfen über Damaskus abgewickelt werden, um diktieren zu können, wer Hilfe bekommt und wer nicht. »Das Regime hat immer Hunger als Waffe eingesetzt«, erinnert Souad. Sie fordert die Bundesregierung auf, dafür zu kämpfen, dass die UN weiter Hilfe über die Grenze liefern kann. »Sollte das nicht gelingen, muss Deutschland Hilfe über unabhängige Organisationen liefern. Europa darf keine Hungerblockade dulden!«

Selbstorganisierte Hilfe ermöglichen
Die Situation der Zivilbevölkerung im Nordwesten Syriens ist weiterhin katastrophal. Über zwei Millionen Binnenflüchtlinge leben größtenteils in Zeltlagern oder anderen Behelfsunterkünften, ohne jede Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben. Es braucht dringend humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen und anderer großer Organisationen. Aber es braucht auch Projekte wie die von unserer Partnerin Souad Al-Aswad, die selbst aus Kafranbel hierher geflohen ist. Die Hilfe, die sie und ihre Kolleginnen der „Makers of Change” für die Flüchtlingsfamilien leisten, basiert auf Selbstorganisation und feministischen Grundsätzen. »Uns geht es nicht nur um Hilfe zum Überleben, sondern um ein Leben in Würde.«

NORD STREAM 2 STOPPEN

»Putin und seine Leute sind keine Geschäftspartner für eine Demokratie, sondern Kriegsverbrecher«

Unsere Partnerin Huda Khayti leitete ein von Adopt a Revolution unterstütztes Frauenzentrum in Ost-Ghouta. Heute setzt sie diese Arbeit in Idlib fort.

»In Ost-Ghouta wurde ich Zeugin, wie die russische Luftwaffe Märkte, Schulen und Krankenhäuser bombardierte. Auch unser Frauenzentrum wurde getroffen, eine Kollegin wurde getötet. Mein Bruder wurde von Granaten getötet, mein Schwager verbrannte bei einem Luftangriff in seinem Laden. Putin hat damit Assad die Herrschaft gesichert, den Westen vorgeführt, Europa destabilisiert und seine geopolitische Rolle ausgebaut. Wenn ich eine Bitte an Sie formulieren darf: Wählen Sie niemanden, der Putin für seine Verbrechen mit einer Pipeline belohnen will.«

KEINE NORMALISIERUNG ASSADS

»Ich habe große Angst davor, dass sich innerhalb der deutschen Regierung eine Politik der Normalisierung der Beziehungen mit dem Assad-Regime durchsetzt.«

Mohammed A. bleibt lieber anonym, weil der syrische Geheimdienst auch in Deutschland aktiv ist – er fürchtet Repressionen gegen in Syrien verbliebene Angehörige.

»Wir haben ja gesehen, wie Deutschland seine Beziehungen zu Ägypten unter Sisi normalisiert hat. Es widert mich an, auch nur daran zu denken, dass das auch im Falle von Syrien passieren könnte. Ich fürchte, dass Syrer*innen dann gezwungen werden könnten, nach Syrien zurückzukehren – obwohl ihnen dort Haft, Folter und Verschwindenlassen droht. Es gab bereits Fälle von Rückkehrern aus Deutschland, die in Assads Folterknästen verschwunden sind.«

GEFLÜCHTETE MIT BEHINDERUNGEN UND TRAUMA UNTERSTÜTZEN

»Es braucht ein bundesweit einheitliches Gesetz, damit endlich alle Menschen mit Behinderung ein Recht auf Inklusive erhalten und die Unterstützung bekommen, die sie brauchen«

Nivin Almousa Almaksour arbeitet bei Handicap International und unterstützt Geflchtete mit Behinderungen.

»In meiner Arbeit habe ich festgestellt, dass geflüchtete Menschen mit einer Behinderung doppelt marginalisiert sind: Sie müssen diese für sie neue Situationen oft alleine durchstehen und haben dabei kaum Chancen, das System und seine Gesetze zu verstehen«, sagt Nivin Almousa Almaksour. Viele Kriegsflchtlinge haben Behinderungen oder psychische Traumata erlitten, erhalten oft aber nicht die erforderliche Unterstützung.

ERZWUNGENER PASSKAUF

»Deutschland zwingt uns dazu, diesem Verbrecherregime auch noch Geld zu geben«

Moro Alali

Syrische Geflüchtete mit subsidiärem Schutz oder bestimmten anderen Schutztiteln werden von der Ausländerbehörde gezwungen, bei der syrischen Botschaft in Berlin regelmäßig für viele hundert Euro einen Pass zu kaufen. »Diese Dokumente sind eine direkte Finanzierungsquelle des syrischen Regimes«, sagt Moro Alali. Es braucht dringend eine gesetzliche Regelung, die es syrischen Geflchteten erspart, sich an die Botschaften des Regimes zu wenden.