Dieses Wandbild in Idlib stellt die Lebensrealität vor Ort besser dar als die schriftliche Abhandlung des OVG NRW.

3 Gründe, warum die Syrien-Einschätzung des OVG NRW fahrlässig ist – Teil I

Das Oberverwaltungsgericht NRW zweifelt an den Einschätzungen des Auswärtigen Amts und renommierter Organisationen zur Lage in Syrien, während es dem Assad-Regime Glauben schenkt. Nicht nur deshalb ist die Darstellung der Situation in Syrien so desaströs geraten. Eine Analyse.

Dieses Wandbild in Idlib stellt die Lebensrealität vor Ort besser dar als die schriftliche Abhandlung des OVG NRW.

Das Oberverwaltungsgericht NRW (OVG) stellt mit seinem Urteil vom 16. Juli 2024 die Erteilung des subsidiären Schutzes für syrische Staatsangehörige infrage. Es bestehe pauschal „keine bürgerkriegsbedingte ernsthafte allgemeine Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung“ heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung. Gleichzeitig wirft es dem Auswärtigen Amt vor, in seinem aktuellen Lagebericht von Februar 2024 pauschal Syrien als unsicher deklariert zu haben und bezeichnet die Quellen als nicht repräsentativ und auf einer „schmalen Tatsachengrundlage“ basierend. Grund genug einmal genauer hinzuschauen. Wie sieht es denn jetzt wirklich in Syrien aus? Ein kurzer Faktencheck.

1.  Syrien wird als sicher deklariert, ist es aber nicht.

Zunächst ist festzuhalten: In Syrien herrscht(e) kein klassischer Bürgerkrieg. 2011 brachen friedliche Proteste gegen das Assad-Regime aus. Das Volk war müde von der Repression und Unterdrückung, Verfolgung und Willkür sowie der Angst vor den Folterknästen des Machthabers. Assad reagierte gewalttätig auf die Demonstrierenden und begann einen offenen Krieg gegen die syrische Zivilbevölkerung. Im Zuge dessen formierte sich bewaffneter Widerstand, aber auch extremistische Gruppen und internationale Akteure mischten sich in die Gemengelage. Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick pedantisch erscheinen, sie ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die Bewertung der Lage, die das Gericht in seiner 81 Seiten langen Urteilsbegründung leider konsequent außer Acht lässt. Denn Assads Syrien ist damals wie heute ein Folterstaat und Ursache für den Krieg.

Obwohl das syrische Regime mittlerweile große Teile des Landes wieder kontrolliert und die offenen Kämpfe in diesen Regionen tatsächlich zurückgegangen sind, bedeutet das keineswegs Entwarnung für die Zivilbevölkerung. Im Gegenteil: Gerade in den Gebieten, die unter die Kontrolle des Regimes zurückgekehrt sind, werden Menschen auf vermeintlich politische Aktivitäten überprüft und verhaftet. 

Seit März 2011 sind rund 130.000 Menschen in Assads Gefängnissen verschwunden. Über 14.000 von ihnen wurden nachweislich zu Tode gefoltert – von den meisten fehlt jedoch jedes Lebenszeichen. Das sogenannte Verschwindenlassen und die systematische Anwendung von Folter bestehen fort. Die erdrückende, jahrelange Dokumentation von Fällen wird im Münsteraner Gerichtsurteil nicht erwähnt. 

Dabei ist kaum ein Krieg besser dokumentiert als der in Syrien. Zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind belegt, darunter der Einsatz chemischer Waffen. Tausende Menschen kamen bei den Giftgasangriffen des Regimes in Ghouta 2013, Khan Sheikhoun 2017 und Douma 2018 ums Leben. Assad bewies unzählige Male, dass er keinen Respekt vor dem Leben von Zivilist*innen hat. Dokumentierte Massenhinrichtungen, Massaker und Belagerungen von Städten wie Ost-Aleppo und Ost-Ghouta, in denen Menschen schlicht verhungerten, sind Zeugnis dafür. Jedoch nicht für das Oberverwaltungsgericht in Münster.

Die Verbrechen setzen sich auch heute noch fort

Des Weiteren ignorieren die Richter den Fakt, dass das Assad-Regime die Lieferung von Hilfsgütern an Bedürftige, auch nach den schweren Erdbeben 2023, regelmäßig verhinderte und UN-Hilfsgelder veruntreut. Außerdem spielt Münster die Gefahren in den Gebieten herunter, in denen das Regime weiter Kriegshandlungen vornimmt

So heißt es zur Region Idlib unter anderem:

„Der Nordwesten der Provinz wird von den in Hayat Tahrir al Sham zusammengeschlossenen Milizen beherrscht, der Südosten von der syrischen Regierung und ihren Verbündeten. Dementsprechend ist die Sicherheitslage in der Provinz von Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Gruppierungen entlang der seit 2020 formal bestehenden Waffenstillstandlinie geprägt, und zwar auch hier hauptsächlich in der Form von Artillerie-, Raketen- und Luftangriffen.“ (S. 77)

Diese Darstellung ist jedoch ungenau. Das Assad-Regime greift regelmäßig zentrale Teile von Idlib an, einschließlich der Stadt selbst, und setzt dabei u. a. Phosphor ein. Oft zielen diese Angriffe auf medizinische Einrichtungen, Schulen, Märkte und Wohngebiete und sogar Flüchtlingscamps. Da bewusst zivile Infrastruktur und Zivilist*innen getroffen werden, handelt es sich hierbei um schwere Kriegsverbrechen. Seit Oktober 2023 haben die Bombardierungen zugenommen, und es besteht die Gefahr, dass Idlib im Jahr 2024 noch stärker unter Beschuss gerät. Die Region wird zunehmend destabilisiert, auch aufgrund des sich ausweitenden Israel-Palästina-Krieges, was die Sicherheitslage in Syrien weiter verschlechtern könnte.

Das Gericht kommt trotzdem zu dem Schluss, dass

„damit […] in der Provinz Idlib keine Situation [besteht], in der Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären, auch wenn zuletzt die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle und der zivilen Todesopfer angestiegen ist.“ (S. 77)

Diese selektive Darstellung findet sich auch in der Bewertung anderer Regionen Syriens. Es wird deutlich, dass das Oberverwaltungsgericht keine kundigen Aussagen über die Situation treffen kann.

 
Lesen Sie hier Grund 2 und 3, warum die Syrien-Einschätzung des OVG Münster fahrlässig ist.